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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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dasselbe, wie Tomaten mit Gurken zu vergleichen.
    Papa fand die Antwort frech. Er lebte nach den Regeln seiner diplomatischen Ethik. Ich hingegen war begeistert von Jewtuschenkos Antwort. Seine Verhaltensweisen, sein Liebesverhältnis mit Bella Achmadulina waren für mich eine absolute Kulterscheinung. Während des Festivals verliebte sich Jewtuschenko in meine Mutter, und sie blühte vollkommen auf von der Art, wie der erfahrene, erfolgreiche Schürzenjäger ihr den Hof machte. In Dakar schrieb er folgende Verse:
    Legt mich unter den Baobab
    Wo ich Freude mit hübschen Weibern hab.
    Papa explodierte, übersah den Dichter demonstrativ, machte Mama eine eifersüchtige Szene. Als Mutter nach Moskau kam, erzählte sie mir, stolz auf ihren Sieg, zum ersten Mal, dass mein Vater eifersüchtig sei, dass er bleich werde, wenn er eifersüchtig sei. Auf diese Weise konnte ich einmal dank Jewtuschenko hinter die Kulissen des elterlichen Lebens blicken.
    *
    Ich sage Ihnen, was das für mich war, die »Sechziger«. Meine neue »Marktbriefmarke«. Die »Sechziger« waren wie die Briefmarken aus den portugiesischen Kolonien. Achmadulina – die Eidechse. Wosnessenski – der Schmetterling. Jewtuschenko – der Jaguar. Von der Bühne herunter rezitieren sie Gedichte darüber, wie grellbunt sie leben in der dreieckigen Form ihrer Marken aus den portugiesischen Kolonien. Ich bin ganz benommen davon. Aber ich lebe mit Großmutter zusammen, die die Deckenlampen in Laken hüllt. Ich möchte Bohemien sein.
    Kirill Wassiljewitsch mit einem Familiennamen aus der russischen Klassik – Tschistow – und dessen Frau Bella Jefimowna stellten unter den Freunden meiner Eltern eine Ausnahme dar. Sie waren Philologen und interessierten sich sehr für Lyrik. Sie lebten arm, aber sauber in Petrosawodsk. Sie schenkten Mutter schmale Bände mit neuer Lyrik. Sie liebten Achmatowa und Zwetajewa, deren Gedichte, getippt auf kariertem Papier, Mama und ich lasen. Ich fuhr nach Petrosawodsk, nach Kishi – ich war bereit, die heilige Rus zu lieben, die Avantgarde, die Intelligenzija, französischen Käse – alles, nur nicht die sowjetische Wirklichkeit in meinem Leben mit Großmutter.
    Auf einer Schulvollversammlung hielt ich die stammelnde Rede eines jungen »Sechzigers« über die Ungerechtigkeiten an unserer Schule. Jahrelang glaubte ich, dass ich meine Vorstellungskraft, meine geschärften Empfindungen, meinen leidenschaftlichen Drang zu Literatur und Gerechtigkeit mit allen Menschen teilte, dass an mir nichts Besonderes sei: Andere würden einfach nicht darüber nachdenken. Aufrütteln musste man sie! Natürlich hatte ich nicht vergessen, was einer meiner Mitschüler über Jewgeni Onegin gesagt hatte:
    »Was quält der sich auch mit solchem Quatsch rum! Eins in die Fresse, dann beruhigt er sich schon!«
    Na schön, leicht zurückgeblieben, der Typ, dachte ich. Ich lebte in einer platonowschen Welt der Träume. Mir schien, dass die Lehrer, einschließlich des Sportlehrers, intelligente Leute wären.
    »Aber er ist doch Lehrer!«, empörte ich mich, als unser Sportlehrer sich eine kleine Sauerei erlaubte (heimlich Mädchen beobachtete). Die intelligente Freundin meiner Mutter fauchte. Ich blieb stur. Mir schien, dass die Welt veränderbar und vernünftig sei. Ich ahnte nicht, dass ich wie ein weißer Rabe aussah. Ich wunderte mich, dass unsere Klassenlehrerin mir im Abschlussexamen nur ein »Gut« gab – die offensichtliche Strafe dafür, dass ich Geschichte besonders intensiv gelernt hatte, um sie mit Fragen zu traktieren. Ich dachte, wir polemisieren ein bisschen. Es stellte sich heraus, dass sie mich nicht ausstehen konnte. Sowohl wegen der Fragen als auch deshalb, weil ich, nachdem ich »Komsorg« – Komsomolorganisator – geworden war, in der Klasse eine samtene Revolution anzettelte: Wir hörten Schallplatten mit französischem Rock ’n’ Roll, Johnny Hallyday. Ich sah, wie unsere bettelarmen Kinder, wenn auch nicht alle, bei der lauten Musik richtig auflebten, und ich dachte mir so, wir vereinigen uns alle in Ekstase – doch Zilja Samoilowna Paltschik, die den Ruf hatte, eine der besten Lehrerinnen in Moskau zu sein, eine gefärbte Blondine in mittleren Jahren, befand, das sei eine Provokation. Aber sie hatte Angst vor mir, dem Botschaftersohn. Ich konnte mir erlauben, über die Stränge zu schlagen. Ich hielt auf der Vollversammlung unserer Schule, in Anwesenheit der Direktorin, eine revolutionäre, durch mein Gestammel (wegen meiner

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