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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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es viel zu viele unaufgeräumte Seelen. Wahrscheinlich hängen im ganzen Land tote Seelen an den Bäumen, die ohne Reue gegangen sind. Das bringt einen aus dem Konzept – man möchte unwillkürlich die Totenmesse für sie lesen. Während Papa nach Paris entsandt und mit Kultur betraut wurde, schickte man mich ins Leben in einem Land, das sich als Metapher für missglückte Vorhaben, als verkörperte Unordnung erwies. Man sagte zu mir: Das ist dein Arbeitsplatz.
    Aber dessen bewusst wurde ich mir erst sehr viel später, lange nach der Zeit, als Mama, schwanger mit meinem Bruder (wovon ich nichts wusste), in den Louvre und ins Museum der Impressionisten ging. Für sie war Kultur Muße, Freizeit, die sie am liebsten auf ihr ganzes Leben ausgedehnt hätte. Eigentlich hätte sie meine Verbündete im Leben sein müssen, aber dem war nicht so: Der Konsum von Kultur ist schädlich für den Künstler; er soll sie nicht schlucken, sondern in Stücke reißen. Mama wollte so gern Literatur übersetzen, und sie besaß zweifellos literarische Fähigkeiten. Aber als bescheidener Mensch hielt sie diese für unbedeutend. Sie begeisterte sich für talentierte Menschen. Sie ernährte sich von Kultur. Sie hielt Papa dazu an, Ausstellungen zu besuchen, und er begeisterte sich für Kunstwerke, bemüht, der kulturbeflissenen Gattin zu entsprechen, obwohl ich bezweifle, dass er jemals den Unterschied zwischen Leonardo da Vinci und Laktionow verstanden hat. Und hier ist er mir sehr viel näher als Mama: Wie sein Lehrer Molotow verstand er instinktiv, dass Kultur gefährlich ist, dass sie an sich Rechtsabweichung ist, Vermischung der Perspektiven, Schwächung der Rolle des Staates.
    Sogar seine Kontakte zu Musikern, die nach Paris kamen und die er begleitete, schwächten ihn mit unnötigen Gedanken und Gefühlen, nicht zuletzt mit Tönen. Er gab ihnen nach und ließ viel Überflüssiges in sich ein. Die unschuldigsten Musiker wie Kogan und Rostropowitsch, die von seinen Berichten an den Botschafter und nach Moskau abhingen, waren noch zu ungestüm und unvorhersagbar. Sie hatten etwas »anderes« an sich. Nie konnte man verstehen: Überschreiten sie die Grenze des Erlaubten, wenn sie eine wertvolle Geige kaufen oder sich mit einem amerikanischen Kollegen unterhalten (mit dem sie sich immer gleich verbrüderten) – oder nützt das der sowjetischen Kultur? In der Politik gab es weniger Dimensionen: Vorgesetzte und Untergebene, Gesinnungsgenossen, Kollegen, Freunde und – Feinde. So dass sich also Vater, als Botschafter Winogradow ihn von der Kultur in die Politik versetzte, wahrscheinlich nicht nur freute (zurückhaltend; ich habe bei Vater niemals eine andere Art von Freude gesehen), sondern auch erleichtert aufatmete. Er kehrte in eine vertraute Welt zurück … Aber ich sagte, dass ich spät dran bin. Papa ist schon lange in Afrika.
    *
    Im August, wenn über Afrika Regenwolken wie schwarze Johannisbeeren hingen und es in der Luft nach Gewitter roch, das einer großen internationalen Krise wie der Kuba-Krise ähnelte, wenn sich die Wolkenbrüche in Überschwemmungen verwandelten, dann fuhr Papa in die Ferien nach Moskau.
    Botschafter – das ist eine ernsthafte Loslösung vom Volk und auf jeden Fall eine nützliche Bekanntschaft. In der Heimat erwartete ihn »Sosny«. Das regierungseigene Erholungsheim »Sosny« war mein liebster Ferienort, obwohl ich dort nie übernachtete. Ich kam an freien Tagen zu meinen Eltern und genoss mein kindliches Paradies. Nach allen Gesetzen meines rasch fortschreitenden und kein Halten kennenden Liberalismus war dies ein verfluchter Ort: Dort machten die wahren Volksfeinde Urlaub – die obersten Regierungslakaien. Doch innerhalb der Tore von »Sosny« wich mein Moralismus jedes Mal dem Hedonismus. Dies war nicht so sehr ein Kompromiss des Gewissens als vielmehr der prachtvolle Unverstand des kleinen Herrn. Um sich unter die russischen Schriftsteller einzureihen, beginnt man am besten als provinzielles Naturtalent oder mit einer schweren Kindheit, als Missgeburt oder Prostituierte. Letzten Endes hat man mir in meiner Heimat meine abstoßende Herkunft nie verziehen.
    »Sosny« bedeutete alljährlich Beförderung für meine Eltern. Es ging weniger um das Schwimmbad, die Ärzte mit dem sauberen Lebenslauf, die perfekte Liebenswürdigkeit des Personals, den Bootsverleih an der Moskwa, das Kasino, den Tennisplatz als um pures Prestige. Die Botschafter hatten das Recht, ihren Urlaub mit denen zu verbringen, die den

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