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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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für den Traum vom Fliegen. Letatlin war die Verbindung von Avantgarde und Revolution. Alles fliegt. Und wenn der Russe emigriert, verliert er seinen Flugplatz – er ist der unglücklichste Emigrant der Welt. Es stellt sich heraus, dass der Russe im Westen zu arbeiten versteht, er versetzt seine Umgebung in Erstaunen: unkultiviert und kriminell, aber im Ganzen normal. Genau so ist das – aber er hat keinen Flugplatz mehr. Natürlich ist das Land ein Zirkus. Alle sind Flieger geworden, aber ohne Hosen. Alle Flieger haben sich gegenseitig umgebracht. Sind vom Himmel gefallen. Die Fallschirme haben sich nicht geöffnet. Sind auf den Boden gekracht. Stalin ist tot.
    Ich bin hierher geschickt, um all das mit meinen eigenen Augen zu sehen und auf der Handfläche zu zeigen – hier, so ist es in Wirklichkeit. Aber die Analyse ist ein Feind des Traums. Der Schlüssel ist der Tod des Märchens. Hände weg von unserem Märchen! Hier nun erhebt sich Kierkegaard: Entweder – oder.
    *
    Mütterlicherseits sind wir alle Kai aus Andersens Märchen ›Die Schneekönigin‹. Der Splitter eines Spiegels ist in uns eingedrungen: Wir sehen alles in einem hässlichen Licht. Auch uns gegenseitig. Oma Sima saß da als eine große Körpermasse und verschlang wie ein Denkmal für den Individualismus, die Brille auf der Nase, Romane. Sie bewegte sich schwerfällig, sie half kaum im Haushalt. Ich hatte den Eindruck, dass sie kalt sei. Ich meine nicht, dass sie nicht zärtlich gewesen ist, aber sie war ein kalter Frosch. Mit kaltem Blut. Auch Mama hatte ihr ewig kaltes Eckchen wie ein Pfefferminzbonbon. Aber Oma Sima war wirklich kalt, und kalt blubberten ihre sumpfigen Leidenschaften. Papa wurde Botschafter in Afrika.
    Er nahm den grauen, in Leinen gebundenen sowjetischen Weltatlas von 1940 aus dem Bücherregal, in dem die Sowjetunion mit den gerade erst angegliederten Territorien in einem solchen Rot dargestellt war, dass es einem flimmerte vor Augen, und das gestrichelte Polen als Zone staatlicher Interessen Deutschlands bezeichnet wurde. Papa blätterte weiter und zeigte mir Afrika, das lilafarbene französische Afrika, aber er fand Senegal und Gambia nicht: Er war gleich in zwei Ländern Botschafter. Ich wurde der Sohn eines Botschafters.
    *
    In der schwarzen Paradeuniform »Seiner Exzellenz« mit vier goldenen Generalssternen auf den Schulterstücken überreichte Vater dem talentierten senegalesischen Dichter Senghor, der eine schöne französische Frau aus der Normandie hatte, sein Beglaubigungsschreiben, absolvierte wie Tschitschikow Antrittsbesuche bei den örtlichen Würdenträgern und Botschaftern aus Übersee, machte allen Komplimente und gefiel allen. Jetzt leitete er selbst eine diplomatische Vertretung, vom Koch bis zu den Botschaftsräten, und machte sich sogleich daran, unermüdlich gegen die Überreste des Kolonialismus und für eine lichte afrikanische Zukunft zu kämpfen. Afrika stellte sich der Sowjetunion als Übungsparadies dar. Die Sklaven und Wilden von gestern trugen jetzt weiße Boubous und träumten vom Sozialismus. Hier und da entstanden plötzlich sozialistische Regime. Es gab natürlich einzelne Fehlschläge: An das tropische Guinea lieferte Moskau Schneeräumwagen, und jemand witzelte, dass es in der Sahara nach Einführung des Sozialismus einen chronischen Mangel an Sand geben werde, doch Vater arbeitete gewissenhaft an der Fehlerbeseitigung. Ich hörte von allen Seiten nur Gutes über ihn: von oben, von unten, von den Weißen und den Schwarzen. Wenn im Hafen von Dakar, wo riesige Ratten herumliefen, wie sie sich nicht einmal Gogol hätte ausdenken können, sowjetische Schiffe anlegten, ging Vater an Bord und nahm die Berichte der Kapitäne entgegen. Als sowjetische Fußballer angereist kamen, strich Papa den Burschen aufmunternd über die flachsblonden Köpfe, und dann fieberte er für sie im Stadion, obwohl er sich in den Regeln dieses Spiels, das er nicht besonders mochte, schlecht auskannte. Es kamen sowjetische Cineasten, er setzte sich für sie ein, es kamen Militärberater, er setzte sich für die Militärberater ein, es kamen die Nachbarn vom KGB , um mit dem sowjetischen Residenten namens Telega zu sprechen, und er fand auch mit Telega eine gemeinsame Sprache. Alles lief wie am Schnürchen.
    Wer nicht in Afrika war, weiß nicht, was das Leben ist. In Afrika ist die Hülle des Lebens entfernt wie die Schale von einer Apfelsine. Afrika ist die Fortsetzung Russlands, ebenso wie Krieg die Fortsetzung von

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