Der gute Stalin
Aus einem blindwütigen Wächter wurde eine verlegene Figur. Seine Verwandlung war unglaublich. Aus dem fassungslosen Onkelchen wurde sodann ein verschreckter Leibeigener, der sich gegen seinen kleinen Herrn aufgelehnt hat. Die russische Geschichte bäumte sich auf. Er begann sich eifrig zu verbeugen, eilig zu entschuldigen – er hatte sich auf fremdes Terrain begeben. Dafür konnte man ihn jetzt davonjagen.
Ich hatte nie zuvor solch ein beschämendes Schauspiel gesehen. In Dakar hatten sich die Vater untergebenen Diplomaten um mich bemüht. Auch die Senegalesen glaubten, ich würde, da ich der Sohn des Botschafters war, später ebenfalls Botschafter werden, und als Vater einmal nicht in irgendeine Stadt zu einem moslemischen Fest fahren konnte, auf dem wie bei einem Kindergeburtstag keine alkoholischen Getränke, sondern orangefarbene Fanta getrunken wurde, gaben sie sich gern auch mit mir als Dauphin zufrieden, und der mich begleitende Diplomat zollte mir unterwürfig die gehörige Anerkennung. Aber das war afrikanischer Hokuspokus. Der Wächter hingegen durchlöcherte sich selbst auf heimischem Boden. Aus ihm schoss der Eiter heraus. Er schrumpfte, seine Uniform faltete sich zusammen. Der Wächter war platt. Vor mir breitete sich eine große Pfütze stinkenden gelb-grünen Eiters aus. In meiner Jugend glaubte ich aufrichtig an das russische Volk, das von der Geschichte getreten war. Das Volk zog mich an wie Schwarzbrot. Ich glaubte sogar an das vom Kommunismus geknechtete Proletariat, bis zu dem Zeitpunkt, als wir in der elften Klasse ein Schulpraktikum in einem Funkwerk in Marjina Roschtscha machten. Doch auf dem Parkweg erschien mir das ganze russische Volk wie eine Eiterpfütze. Das war eine mystische Erscheinung. Dieses Gefühl war schrecklicher als alle meine Kinderängste, und es verlangte, dass ich mich davon befreite. Ich wusste nicht, wie man das machte. Meine Literatur war ein Embryo im ersten Monat, noch nicht fähig zu selbstständigem Leben. Ich glaubte nicht an die Lebensfähigkeit dieses Embryos.
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Ich weigerte mich, die Wirklichkeit als real zu akzeptieren. Ich sprang in eine Welt der Gespenster hinein. Großmutter erfand immer neue Formen ihrer gespenstischen Blockadegeschichte: Sie wickelte sogar meine Fahrradlampe für den beinahe unmöglichen Fall eines Nachkriegslebens in einen Lappen ein. Meine Eltern schrieben mir aus Afrika optimistische Briefe mit Beschreibungen von seltenen Muscheln und dergleichen Geheimnissen der Unterwasserwelt. Mit französischer Nonchalance, die vollkommener Gleichgültigkeit ähnelte, ließen sie mich mit meinen Aufnahmeprüfungen an der Universität allein. Bei der mündlichen Prüfung in Literatur drehten sie mich durch den Wolf.
»In welchem Abschnitt des Poems Gut und schön findet eine Begegnung zwischen Majakowski und Blok statt?«, lautete eine ihrer Fragen. Ich erinnerte mich nicht an die Nummer des fraglichen Abschnittes, dafür aber verstand ich die simple Bedeutung, die Majakowski in diese mystische Szene gelegt hatte, und das riss mich heraus – ich bekam das rettende »Sehr gut«. Erst als ich schon drei von vier Prüfungen ohne jedes Vitamin B unter extremen Wettbewerbsbedingungen bestanden hatte – zu Hause verfolgte Mutter mit glasigem Blick meine Qualen –, kam Vater überraschend herbei, um seinen verdienten Urlaub anzutreten, und sie liefen eifrig mit einem gewissen Sassurski, einem entfernten Bekannten von Vater, durch die Flure der Philologischen Fakultät auf der Suche nach dem Raum, wo ich die Prüfung in Geschichte ablegte, um dem Dozenten etwas ins Ohr zu flüstern, aber sie fanden mich nicht – ich hatte die Prüfung bereits bestanden.
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Das unreife Bewusstsein eines Orangerie-Kindes, das von zwei ungleichen, jedoch gleichermaßen oberflächlich verinnerlichten Kulturen an den Beinen in entgegengesetzte Richtungen gezogen wurde, verwandelte sich in einen hungrigen Geist. Nach einem Nervenzusammenbruch, nächtlichen Albträumen und sonstigem, für die Phase nach derlei Examen typischem Unsinn glaubte ich mit den kläglichen Überresten meines jugendlichen Idealismus, dass die Universität eine freie Akademie sei. Die erste Vorlesung am ersten September war zur Geschichte der KPdSU . Allerdings kam danach Radzig, der Homer auf Altgriechisch rezitierte. Er räumte ein, dass er nicht genau wisse, wie es in Wirklichkeit geklungen habe, denn er habe damals ja nicht gelebt, doch als ich den gebrechlichen alten Mann betrachtete,
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