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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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Zufälligkeiten indessen, die sich in seinem jungen Leben angesammelt hatte, wurde von den Spielen des Schicksals vorangetrieben. Das Schicksal spielte mit ihm Versteck. Darauf kam er nicht gleich. Alles begann mit Lappalien. Kaum hatte er gedacht, dass ihm schon lange kein Staubkorn mehr ins Auge geflogen war, da musste er auch schon in die Augenklinik gleich neben seinem Haus in der Blagoweschtschenski-Gasse, wo er neben Leuten mit Veilchen im Wartezimmer saß. Ein andermal, als er gerade daran dachte, dass er schon lange keine schlechte Note mehr bekommen hatte, fand er sich plötzlich vollkommen hilflos vor einer Geometrie-Aufgabe an der Tafel stehend. Dasselbe passierte ihm mit der Angina. Nach und nach fügten sich die Beispiele zu einem System zusammen. Das Schicksal spielte mit ihm ein übles »Gegenteil«. Die Dinge ereigneten sich wie bestellt genau dann, wenn er sich darüber wunderte, dass sie ausblieben, sich Zeit ließen, oder aber, wenn ihm ihr mögliches Eintreten bereits zweifelhaft erschien. Das Schicksal entzog sich immer der Aufgabe, die er sich gestellt hatte. Wenn er ins Ferienlager fahren wollte, um ein neues Mädchen kennen zu lernen, oder wenn er eines zum Tanzen aufforderte, war das Resultat betrüblich, das Schicksal erteilte ihm eine Absage, aber wenn er überhaupt nichts im Sinne hatte, war das Schicksal bereit, ihn überaus großzügig zu behandeln. So zum Beispiel träumte er die ganzen letzten Schuljahre hindurch davon, in der allseits beliebten Zeitschrift Junost , in der auch seine Idole abgedruckt wurden, eine kleine Auswahl seiner Gedichte samt einem Foto zu veröffentlichen (das Dichterfoto auf der Lyrikseite der Zeitschrift war besonders anrührend), er schickte die auf der Erika getippten Gedichte mit der Post, buchstäblich auf die andere Straßenseite, wartete mit einem Gefühl im Magen, das erotischem Schmachten glich, und – wurde abgelehnt (sogar der Vordruck mit der knappen Absage rief bei ihm Respekt und Freude hervor, denn immerhin hatte man überhaupt geantwortet; die Lyrikabteilung von Molodaja gwardija reagierte mit einer weitschweifigen Abfuhr und warf ihm vor, »volksfeindliche« Gedichte, gereimt à la Majakowski, verfasst zu haben – daraufhin schickte seine Großmutter heimlich, voller Angst vor den Konsequenzen, diese Beurteilung an die Eltern in Afrika, die ihrerseits darauf überhaupt nicht reagierten); aber kaum begann er ernsthaft an sich zu zweifeln, kam es zu einer ermutigenden Entscheidung, die er nicht erwartet hatte.
    Zunächst gelangte er zu dem Schluss, dass er vorsichtiger sein müsse. Er versuchte, sich der Fragestellung an sich zu widersetzen, warum ihm dies oder jenes nicht passierte. Er erkannte, dass er, statt zu warten, gerade nicht warten durfte, das Ziel, das er verfolgte, über Bord werfen sollte. Genauso wartet ein Mensch, der an Schlaflosigkeit leidet, vergebens auf den Schlaf, er ruft nach ihm mit Hilfe von monotonem Zählen von Schafen oder Kamelen in der Wüste, schläft indes unerwartet ein, wenn er bereits jede Hoffnung verloren hat. Besonders vorsichtig wurde er, was seine Mutter betraf. In der fünften Klasse empfahl ihm die Bibliothekarin in der Kinderbibliothek in der Trjochprudny-Gasse ein Jugendbuch eines zeitgenössischen Autors. In realistischer Manier wurde der Tod der Mutter des jungen Helden beschrieben. Die literarischen Qualitäten des Autors, dessen Namen er ebenso wenig behielt, wie man sich an den Namen eines Filmregisseurs erinnert, konnte er kaum beurteilen, aber das Thema setzte sich in seinem Kopf wie ein Splitter fest und ließ ihn jahrelang nicht los. Er hatte Angst, Mama könnte sterben. In seinem Kopf starb Mama Millionen Tode, einer schrecklicher als der andere. Er vergaß sogar seine Pariser Angst vor der Scheidung der Eltern. Obwohl er nicht endgültig das Versteckspiel seines Schicksals durchschaute, hatte er doch eine Vorahnung und war gezwungen, ein Verteidigungskonzept zu entwickeln, um zumindest Mutter nicht zu schaden. Er begann zu begreifen, dass er, wie die Dinge lagen, in diesem Fall zum Beschützer des Lebens seiner Mutter wurde, aber das verriet er niemals und niemandem, so wie er es auch jetzt nicht verraten würde, selbst wenn man ihn zwänge, die dritte Person Singular gegen die erste oder gar zweite einzutauschen.
    Da er andererseits verstand, dass er nicht direkt um etwas bitten konnte, versuchte er, den Schlüssel zur Enträtselung dieses Spiels zu finden. Jedes Wissen ist mangelhaft und

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