Der gute Stalin
verdächtigte ich ihn eher der Alterskoketterie. Die Universität hatte für mich einen Nutzeffekt wie eine Dampflok – nicht mehr als fünf Prozent. Man brachte mir einigermaßen Französisch bei, aber alles Übrige war Freizeit. Nach dem ersten Studienjahr erkannte man mich in der Botschaft in Dakar nicht wieder. Jemand flüsterte Mama zu:
»Wie er sich verändert hat!«
Ich ähnelte einem Abriss der Philosophie des 20 . Jahrhunderts. Mir fehlte der Rückhalt. Alles war dem Zufall überlassen. Höchstens ein auf den Kopf fallender Stein schien mir eine gesetzmäßige Erscheinung zu sein. Ich wusste nicht, woran ich meine Moralvorstellungen aufhängen sollte. Mein Moralismus brach zusammen. Im ersten Studienjahr ging ich in die wissenschaftliche Bibliothek – das war meine Universität. In jugendlicher Begeisterung entdeckte ich für mich die russische Philosophie von Solowjow bis Berdjajew. Ich ertrank im russischen Idealismus. Mir gefiel sein angewandter Charakter. Im Grunde genommen war das Pseudophilosophie. Es ging um die eigene Rettung. Damit hatte sich auch Dostojewski befasst. Eine enorme Welt strömte in mich ein. Trotz allem aber fehlte mir der Rückhalt – ich war nicht gläubig.
Vielleicht habe ich mich an Dostojewski überlesen. Sein Kellerloch war für mich überzeugender als Aljoscha Karamasow. Er war wirklich ein Kind des Jahrhunderts des Unglaubens und stürzte viele russische Seelen ins Verderben. Seine klassische Gottverlassenheit und Leere, seinen hilflosen Leidensweg zum Sinn lud er dem Leser auf. Er trug das Kreuz und trug es nicht bis ans Ende – er brach unterwegs zusammen. Er stieß schwere Winde aus und schwächte damit im Grunde die russische Energie. Rosanow klagte über Gogol, der die Russen in einen dunklen Wald von toten Seelen geführt und sie dort ohne einen Funken Hoffnung zurückgelassen habe. Doch Gogol hielt sich mit seiner genialen Sprache wie ein Schwimmer im Toten Meer. Dostojewski zog alle hinab in die Tiefe. Nur Einzelne kamen wieder an die Oberfläche. Zum Nachtisch las ich Samjatin und das ganze übrige Wortschneegestöber der zwanziger Jahre. Und da braute sich eine jugendliche Tragödie zusammen. Ich entdeckte Nietzsche. In Leningrad, wo ich bei Freunden meiner Eltern die Winterferien verbrachte. Ich las nachts beim Duft der Neujahrstanne und der großen unbeherrschbaren Privatbibliothek Nietzsche, und sie, für mich zwei sehr alte und sonderbare Leute, machten schwer atmend hinter einer halb geschlossenen Tür Liebe. Nachdem ich Nietzsche gelesen hatte, verlor ich die Verbindung zur Zeit. Allerdings liebte ich noch lange die Lyrikabende der »Sechziger«, ging dort immer wieder hin wie in einen Traum. Sie erschienen mir wie zuvor als Götter. Aber die Gottverlassenheit wurde zum Hauptthema. Ich erblickte einen Riss zwischen Moral und Welt. Die Zufälligkeit der Welt wurde zu meiner Zufälligkeit. Die Welt war davongeflogen in die Absurdität. Ich war neunzehn Jahre alt.
In der Lotterie zog ich zwei Glückslose. In Frankreich war zu jener Zeit ein Marquis-de-Sade-Boom ausgebrochen. Ich stürzte mich auf ihn mit pornografischen Absichten und fand einen Philosophen; in schwerfälliger, trockener, aber sehr überzeugender Form lehrte er mich die Theorie der Straflosigkeit, die, angewandt auf den sowjetischen alltäglichen Schwachsinn, mir für viele Dinge die Augen öffnete. Ich bin dem Marquis bis heute für seine Schulung dankbar. Das zweite Glückslos war Schestow. Er erzählte mir, dass die russischen Schriftsteller wie eine verwundete Löwin seien. In ihrer Seite steckt ein Pfeil, sie blutet, aber sie läuft los, um ihre Jungen zu füttern, wobei sie so tut, als wäre sie gesund. Schestow erleichterte meinen Zwist mit der Welt; er empfahl, sich dem Zufall und der Verzweiflung auszuliefern, sich dem Sinn von der anderen Seite zu nähern, indem man die Unvollkommenheit der Welt akzeptierte. Mit einer gewissen historischen Verspätung, wie in Russland üblich, lief ich mit fliegenden Fahnen dem aus der Mode kommenden Existenzialismus hinterher. Ich fühlte mich wie Sartres Held aus Der Ekel . Ich ekelte mich vor den Menschen. Gut und Böse vermischten sich. Ich hatte wüste Einsamkeitsanfälle, mit neunzehn Jahren verlor ich jede Lebensmotivation, nichts war mir lieb, ich war nah am Selbstmord, so nah, wie mir das meine atheistische Todesangst erlaubte. Ich zog verschiedene Formen des Selbstmords in Erwägung. Mich rettete die Liebe.
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Die kritische Masse von
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