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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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zu viel zugleich. Zudem ist es nicht zuverlässig. Mit zunehmendem Alter kam er dahinter, dass das Interesse des Schicksals an Spielen unterschiedlicher Tragweite, vom Staubkorn im Auge bis zum Autounfall, ihn von dem Vorwurf befreite, sein Leben sei zufällig, und kundtat, dass man auf ihn Acht gab. Er verstand die Wichtigkeit dieser Auslese und war bereit, ihr so zu entsprechen, dass man ihn nicht der Manipulation verdächtigen konnte. Zu seiner Rechtfertigung hätte er sagen können, dass diese Auslese nicht nur ihn selbst betraf, und dies war im Grunde eine nicht weniger gute Kunde als der Text der Evangelien, obwohl die Hoffnung sich in diesem Fall auf einen lokal sehr begrenzten Bewusstseinsabschnitt beschränkte. Ihr musste man nicht nur Rechnung tragen, sie durfte man mit keinem literarischen Unternehmen beschädigen, sie durfte nicht Gegenstand eines interessanten Gesprächs sein, das den Zuhörer auf sich aufmerksam machte, aber als Offenbarung brauchte es eine apokryphe Botschaft für die Zweifelnden und Verzweifelten. Später, angesichts dessen, wie seine erfolgreichsten Kollegen in Vers und Prosa intertextuelle ästhetische Schlösser aufbauten, mit ihrem Witz, ihrer Beobachtungsgabe, dem Erforschen des vergänglichen Lebens von Sprache und Stil, dem Ersinnen ihres Images, von ihrem Äußeren – dunkle Brille und schwarze Kleidung – bis hin zu strategischen Aufgaben der literarischen Karriere ihre Leser entzückten, wusste er, dass sie niemals ausgestattet gewesen waren mit diesem gefährlichen Wissen um die Hoffnung, das Demut erzeugt und einen auf den Gedanken von der Begrenztheit jedes modischen Stils bringt. Die Grobheit des tolstoischen Umgangs mit der Sprache, angereichert mit einer Fülle an Details, die an die Kathedrale von Toledo erinnern, hervorgerufen von der Suche nach einer würdigen Versöhnung mit dem Unerreichbaren, wurde für ihn natürlich keineswegs zum Vorbild, das Nachahmung verdiente. Wie bei dem Versteckspiel, welches das Schicksal mit ihm spielte, verstand er, dass keinerlei Bilder irgendwelche Symbole sein konnten und dass sich irgendein bescheidener Hinweis auf die Wahrheit hinter einer vollkommen zufälligen Ecke, einem Peinlichkeit erzeugenden Wort oder einer irren Szene versteckte. Aber das war für ihn Zukunftsmusik. Damals, als er erwachsen wurde, dachte er darüber nach, wie weit er in den Stoff der Ereignisse eindringen könnte. Er wusste genau, dass er keine Bestellung aufgeben konnte: Der Gedanke, dass er schon lange kein Staubkorn mehr ins Auge bekommen hatte, entstand bei ihm unwillkürlich, er musste lernen, solche Gedanken zurückzuweisen, aber er verstand, dass die Unwillkürlichkeit des Gedankens ebenfalls eine komplizierte Verflechtung von Umständen war, in die sich eigene Absichten aufnehmen ließen. Wenn ihm der amerikanische Präsident Kennedy mit seinen, wiederum vom Gegenteil her gedacht, Intentionen der Weltbeherrschung nicht gefiele, was nichts mit jugendlichem Neid zu tun hätte, sondern mit Überlegungen zu den Rollen in der Welt, obwohl auch reinster grober Unfug eines vorzeitigen Hackers nicht ausgeschlossen wäre, und ihm unwillkürlich der Gedanke käme, dass schon lange kein amerikanischer Präsident mehr eines gewaltsamen Todes gestorben sei, so könnten die Ereignisse vom 22 . November 1963 eine Antwort auf seine unwillkürlichen Gedanken sein. Er vermochte keine Verschwörung anzuzetteln, aber jemand konnte das für ihn tun. Ein weitaus offensichtlicherer Fall wäre das Regime seines eigenen Landes gewesen, doch er war vernünftig genug, die Regeln des Spiels nicht zu verletzen, die sehr viel wichtigere Dinge betrafen. Versteckspiele waren sein Leitstern jedenfalls bis zu dem Moment, da er selbst den Algorithmus von Zufall und Fatalismus zu spüren bekam, der die Basis der Dinge in der Welt bildete, in der wir uns gerade alle befinden. Wie dem auch sei, Kennedy wollte er nicht umbringen.
    *
    Meine gutmütige Mutter half mir mit Büchern. Wenn ich aus Dakar über Paris nach Moskau zurückreiste, brachte auch ich selbst – unter Nutzung des Diplomatenpasses – eine Menge Bücher der YMCA -Press mit. Zu Hause kam es deswegen zum mächtigen Krach. Mama sortierte die Bücher nach möglichen (Lyrik, Philosophie, Nabokov) und unmöglichen (Grobheiten, über unser Leben, Autoren, die im Ausland geblieben waren: L’antisoviétisme primaire ). Die Grenze (des letztlich liberalen) Verbots verlief zwischen Orwell (möglich) und »Beethoven«

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