Der gute Stalin
Puschkina zur wilden Ehe überredete, indem er ihr die Heirat versprach, sich jedoch als Schuft erwies, denn in einem anderen, uns nicht zugänglichen Leben, war er bereits verheiratet) die Neujahrstanne hereintrug und wir begannen, sie zu schmücken, wobei wir auf einen Stuhl kletterten, um an die Spitze heranzukommen und den roten Stern darauf zu stecken, an die Zweige Kugeln und Fische zu hängen, und unter den Baum meinen ersten Kindergott mit dem Kutschergesicht – rote Backen und russische Stupsnase – setzten, dann fühlte ich: Das ist eine Atempause. Gottväterchen Frost war mit einer groben Schere aus der Weltmythologie herausgeschnitten und allein gelassen, bis die Tanne zu nadeln anfing, für zwei Wochen bis zum alten Neujahrstag, aber sogar dieser kleine Splitter des Weltpantheons wärmte mich mit seinen Gaben. Er sprach vom Geheimnis der Welt, er war mein Verbündeter.
Frühmorgens am ersten Januar, wenn die Eltern noch schliefen, sprang ich aus meinem Bett, das damals im Elternschlafzimmer an dem Fenster mit dem heißen Heizkörper der Zentralheizung stand, und lief rasch ins Wohnzimmer, das nach Tannennadeln duftete, um unter den Baum zu kriechen. Väterchen Frost mit dem Kutschergesicht war von Geschenken umgeben.
Die brüllend heiße Zentralheizung bewirkte, dass ich oft von dunklen Volksdemonstrationen träumte. Meinem frühkindlichen Leben in den Armen des Todes brachten Feiertage und Geschenke Linderung. Das Leben besteht aus Feiertagen und Geschenken – alles andere ist ein Missverständnis. Das Leben besteht aus Ablenkungen vom Tod. Mir hat man keine Moralvorstellungen von Unglück, Sklaverei und Feigheit eingeimpft. Ich musste nicht unter den Erniedrigungen einer Kommunalwohnung leiden. Meine spontane Moral bestand aus grenzenlosem Vertrauen zur Welt und vollkommener Offenheit ihr gegenüber. Ich war jene offene Seele, die geboren ist, um ein tanzender Gott zu werden.
Ich verstehe nicht, wie man den ganzen Tag, jahraus jahrein, für einen idiotischen Lohn arbeiten kann, mit einer kurzen Mittagspause, mit den Anschnauzern der Vorgesetzten und der dumpfen Grobheit des Kollektivs. Ich ahne, warum man arbeiten muss, doch ich weiß nicht, wofür. Dafür wusste ich seit früher Kindheit, dass sich Geschenke in zwei Arten teilen. Es gibt das Traumgeschenk, an das man nicht einmal zu denken wagt, und wenn doch, dann nur vor dem Einschlafen. Zum Beispiel eine Eisenbahn mit einer Menge Waggons, Brücken und Schienen. Solche Geschenke gewährleisten Glück im Erwachsenenleben, sie stellen das ganze Leben auf den Kopf und lenken einen in die richtige Richtung. Mama tritt von hinten an dich heran, und du bemerkst gar nicht, wie sie sich nähert, du gehst ganz in deinem Geschenk auf, und sie streichelt dir über den Kopf. Das ist ein Moment vollkommenen Glücks.
Aber es gibt auch Geschenke, die sagen »lass mich in Ruhe«. Sie werden rasch nebenbei gekauft, weil es sein muss, und von ihnen geht eine seltsame Energie aus, sie riechen nach gekochten Makkaroni. Also, irgendein Brettspiel oder »kein richtiges« Feuerwehrauto, so eines mit einer Leiter an Schnüren. Vor einem solchen Geschenk hockst du, und du tust dir selbst Leid, und die Eltern tun dir Leid. Aber du lässt dir nichts anmerken, heuchelst Freude, umarmst Mama und denkst bei dir: Wozu macht ihr das? Ich durchschaue euch doch sowieso.
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Aus einem Brief meines Bruders Andrej an die Eltern in Wien:
Moskau, 8 . 5 . 1979
Liebe Mama, lieber Papa,
noch ein oder zwei Briefe, und unser langjähriger epistolarischer Austausch geht zu Ende – eine ganze Epoche in meinem Leben. (…) Mit diesen Briefen habe ich schreiben gelernt, wenn auch nicht so ganz – ich mühe mich damit ab und schreibe schlecht.
Auch jetzt befinde ich mich in einer sehr schwierigen Lage – ich weiß nicht, was ich schreiben soll, um Euch zu trösten und aufzumuntern, denn ich bin selbst vollkommen durcheinander wegen dieser schrecklichen Geschichte, die man kaum glauben kann. Ich sehe (besser: höre in Euren Stimmen) Verwirrung und Kummer wegen des Vorgefallenen, ich sehe auch Vitjas Seelenzustand, die Folgen des moralischen Schlags, den er sich, da er so fahrlässig über die Folgen nicht nachdenken wollte, selbst versetzt hat, und ich fürchte, ich fürchte es sehr, dass sich dies alles fatal auf die Beziehungen innerhalb unserer Familie auswirken und sie untergraben könnte. (…)
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Das Gedächtnis aufschlagen wie ein Zelt, indem ich die Strippen der Erinnerungen
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