Der gute Stalin
Zeit auszusteigen, da setzt die einem Baum ähnelnde phallische Gottheit ihr nach, packt sie an der Gurgel und drückt zu. Zwischen den untreuen Ehegatten treten bei solch heftiger Auseinandersetzung im Schlafzimmer mit dem bunten daghestanischen Teppich, der die ganze Wand über dem Bett ausfüllt, zwischen den Atemgeräuschen gewisse Pausen ein, die notwendig sind für die Geburt der Worte und das Entstehen der Sprache. Ich beginne zu begreifen, dass das Wort die Folge von Betrug ist, eine Form seines Diskurses, und ich krieche unter das Sofa.
Unter dem niedrigen Sofa ist es staubig, verloren geglaubte Gegenstände liegen hier herum, Spielsachen, Münzen von geringem Wert, Konfektpapierchen. Ich schweige, erschüttert von der Wahrheit, die sich mir offenbart hat. Mir nach unter das Sofa kriecht in ihren braunen Strümpfen meine Altersgenossin und Cousine zweiten Grades, Lena, die aus Kertsch zu Besuch zu uns gekommen ist. Sie will bei uns wohnen, sich anmelden, aber irgendetwas hindert sie daran. Beim Wort »Kertsch« knirscht bei mir bis heute der Sand zwischen den Zähnen, und aus irgendeinem Grund ähnelt es dem Wort Herz. Ihr Papa ist Militärflieger und heißt Jelagin. Im Sommer spielten Lena und ich in Trudowaja in einem dichten Himbeerbusch, an dem wir uns Hände und Arme zerkratzten, Doktorspiele: Wir zeigten einander unsere kindlichen Körper, die Genitalien. Ich verstehe, dass ich selbst teilweise aus Lena bestehe, aus ihren Gelenken, Brustwärzchen, tief beeindruckt nicht nur vom Geheimnis des Wortes, sondern auch von ihrer vertikalen Kerbe. Ich weiß, bereits unter dem Sofa, dass mir ein paralleles Leben bevorsteht, aber ich weiß nicht, mit wem und wann. Das Androgyne in mir ist in Gang gesetzt. Das ist stärker als Geistesstörung. Lena mit dem großen Kopf und den weißblonden dünnen provinziellen Zöpfen erweist sich als erste Verkörperung von mir als Mädchen, nahes Wesen, lebenswichtiger Gesprächspartner. Ich habe nicht genug mit mir selbst. Ich muss zu sprechen anfangen, aber mir stehen keine Kolanüsse und nicht einmal Tabakkrümel zur Verfügung. Die Stille wird mich gleich zerreißen. Lena, die erfahrene Kundschafterin, langt mir in die kurze Hose. Sie holt meinen Pimmel hervor und nähert sich mit dem Mund, windet sich wie eine regenbogenfarbene Schlange. Schnaufend lutscht sie daran. Unsere Gesichter sind von der Wonne des Inzests zweiten Grades verzerrt. Sie steigert sich mit jeder Sekunde.
»Du Liebe«, sage ich, Lena über den Kopf streichelnd.
Sie hält es nicht aus, kriecht unter dem Sofa hervor und stürmt ins Wohnzimmer:
LENA Tante Galja, Tanta Galja, Vitja kann sprechen!
»Warum so viele Milizionäre?«, schreie ich empört und krieche meinerseits unter dem Sofa hervor. Ich sehe, wie ich die Blagoweschtschenski-Gasse entlanggehe, vorbei an einem Kommissionsgeschäft mit kleinen Schaufenstern, die sich ihrer bourgeoisen Auslagen zu schämen scheinen, und mir eine Kompanie Milizionäre entgegenmarschiert. Wohin gehen sie? Und wozu?
MAMA In die Banja.
In der Tat, die Milizionäre haben Handtücher unter den Arm geklemmt. Sie marschieren in die Banja.
»Vitja kann sprechen!«, ruft Mama.
»Er wird mal Dissident«, sagt kopfschüttelnd Andrej Michailowitsch Alexandrow-Agentow, der zukünftige Referent Breshnews. Schwer zu sagen, wann ich tatsächlich meine Unschuld verloren habe: Es will mir scheinen, dass ich schuldig und schuldbewusst geboren wurde. Irgendwo fern im Wohnzimmer taucht wie ein Grashälmchen die kleine Gestalt von Oma Lilja auf, der Schwester von Anastassija Nikandrowna. Sie spielt in der Familie die Rolle der Heiligen: Nie hat sie Geld. Wenn sie bei Großmutter zu Besuch ist, achtet diese darauf, dass sich Oma Lilja in der Nacht auf dem Sofa nicht herumwälzt, damit sie es nicht eindrückt, und Oma Lilja faltet immer die Hände und sagt:
»Nastenka, Nastenka …«
*
Das Gedächtnis ähnelt einer von ihrem geliebten Hund abgenagten Leiche. In der Wohnung allein gelassen, heult er stundenlang vor Angst und Hunger, immer im Kreis um den ermordeten Herrn herumlaufend, doch der Hunger bezwingt seine Ergebenheit, er frisst den Herrn, zuerst vorsichtig seine bloßen Arme, und dann hält er es nicht mehr aus, sein Verstand trübt sich, und er reißt ihn knurrend in Stücke. Die Wiederbelebung der abgefressenen Leiche seines Herrn ist ein unvorstellbares Wunder, aber manchmal geschieht es doch. Der Herr zuckt. Haut- und Fleischfetzen fliegen mit einem Pfeifen
Weitere Kostenlose Bücher