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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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gar nicht, was ich dazu sagen soll: Man hat mich sehr raffiniert bestraft – mit Euch, Eurem Kummer und Eurem verständlichen Verdruss über mich. Ich könnte jetzt natürlich auf dem Papier lang und breit Erklärungen abgeben und den angestauten Gefühlen freien Lauf lassen – aber was bringt das? Ein grausames Paradoxon: In dem Wunsch, etwas Nötiges und Richtiges zu tun, habe ich die mir am nächsten stehenden Menschen, von denen ich immer nur Gutes erfahren habe, schwer verletzt – Euch. Ich bete zu Gott nur um eines: dass wir in diesen schlimmen, schmerzlichen Tagen die Einheit unserer Familie, gegenseitiges Verständnis und Vertrauen bewahren können. Ich denke ununterbrochen darüber nach. (…)
    *
    Ich schwieg wie ein Partisan, bis ich dreieinhalb Jahre alt war. Einzige Ausnahme: »Aí!« Wenn ich an die Küchentür der großen Nachbarswohnung klopfte, wo der Riese Boris Fjodorowitsch mit den lebhaften, aufmerksamen Augen wohnte, zusammen mit einem ganzen Haufen von Verwandten, Kostgängern und miauenden Katern, die aus den verschiedenen Zimmern angelaufen kamen, fragte mich die polnische Hausangestellte Zosia durch die Tür:
    »Wer da?«
    »Aí!«, antwortete ich anstelle von »swoí«, was so viel heißt wie »ich bin’s«, »einer von den eigenen Leuten«.
    Und alle lachten über mich. »Aí« wurde mein Spitzname, eine Parole, mein sonniges leichtsinniges Wesen. Ich stürmte mit einem Clownsschrei ins Leben: »Aí!« In der Periode des frühkindlichen Traums war ich ein Stammesmitglied der afrikanischen Dogon: Die Kosmisierung des Menschen und die Anthropomorphisierung des Kosmos stellen zwei parallele Prozesse dar, die seine Weltanschauung prägen. Ich suchte mein Spiegelbild in allen Spiegeln des anthropomorphen Universums, wo Großmutter, Marussja Puschkina, eine Wanze oder eine Ameise die Bewahrer des Wortes sind. Gerade durch diese verlängerte Stummheit machte das Wort mich zu seinem Träger, erwählte mich, überschrieb mir seine bevorstehende Information.
    Ich war dann auch jenes Wort-Kind, das zur Welt kam, damit es ausgesprochen werde. Alle Kinder um mich herum sprachen – ich schwieg. Die afrikanischen Mystiker wissen, dass viele Methoden und Mittel existieren, deren Zweck es ist, die Geburt des Wortes zu vereinfachen. Zu mir, der ich in Moskau lebte, passten die wichtigsten davon eindeutig nicht: Pfeife und Tabak, Konsum von Kolanüssen, Absägen der Zähne, Einreiben der Zähne mit Farbstoffen, Tätowierung des Mundes. Ich ahnte, dass die Geburt des Wortes mit einem gewissen Risiko verbunden ist – zerstört es doch die Harmonie des Schweigens. Das Schweigen, das Geheimnis besitzt eine Initiationsbedeutung, da die Welt ursprünglich ohne Worte existierte. Meine Redeweise ist bis heute umständlich, ich bin instinktiv ungelenk, in meiner Jugend aber stand es damit überhaupt schlimm (ich wurde beim Reden rot vor Verlegenheit), die Lippen sind angespannt, krampfhaft verzerrt. Redegewandte Leute sind mir suspekt, die Nachrichtensprecher im Fernsehen, Kommentatoren, Leute, die viel schwätzen, empfinde ich als Verräter. Das berühmte stalinistische Plakat mit der aufrechten Frau, die einen Finger an die Lippen legt, plaudere keine Geheimnisse aus!, gefällt mir metaphysisch, ich habe Angst zu sprechen: Ich fürchte, die Welt aufzuschlitzen, aus der dann die Eingeweide der Erscheinungen und Folgen herausquellen, ich weiß, dass die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung jedes Sinns entbehren. Ursprünglich, in meinen frühkindlichen Träumen, brauchte ich keine Sprache, denn alles, was existierte, verstand das unhörbare Wort, das stete Rauschen der Luft.
    Die Situation gestaltete sich folgendermaßen. Ich sah eine grobe phallische Gottheit in Gestalt eines Baumes. Ich sah den himmlischen Demiurgen, der sich als Wasser wie aus einer Fontäne ergoss. Sie tauschten Informationen ohne Worte aus. Aber ich, da ich »Aí« war, wusste nicht, dass die Frau des phallischen Gottes, der nicht nur Pflanzen, sondern auch Tiere erzeugt hatte, auf alle Frauen eifersüchtig war, die der Demiurg erschaffen hatte. Ich fühlte, dass da etwas nicht stimmte, ich konnte es damals nicht verstehen, aber jetzt verstehe ich, dass er sich mit ihnen paarte. Damals spürte ich eher die Angespanntheit ihrer Beziehung. Möglicherweise hielt es die Frau dann nicht mehr aus und betrog ihrerseits ihren Gatten: Sie fährt in einer weißen Bluse mit der Moskauer Metro nach Hause, nächste Station »Majakowskaja«, höchste

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