Der gute Stalin
zwischen den Pflöcken spanne und darauf warte, dass ich dort herausgekrochen komme – der Künstler »aus dem Nichts«. Familienalbum. Iwan Petrowitsch Jerofejew kenne ich nicht bewusst, die Erinnerung an ihn konnte ich nie an die Oberfläche holen, sooft ich auch die Fotos von uns anschaute, auf denen wir an einem sonnigen Tag auf der Datscha einen Petroleumkocher reparieren, sosehr ich mich auch anstrengte, mich an seinen Zwicker oder die Tjubeteika, sein mittelasiatisches Käppi, zu erinnern:
GROSSVATER Es wäre schön, Milizionär zu sein. Man steht auf Posten, fuchtelt mit dem Stöckchen herum, zeigt hierhin und dorthin und nirgendshin.
GROSSMUTTER Ein Witzbold! Er konnte Witze machen wie sonst keiner.
Ein Witzbold und Fremdling, dem ich trotz aller Bemühungen nicht auf den Grund kam, Vorfahre des Jerofejewschen Humors, war er schließlich nur noch ein Hügel in Sektor neunzehn auf dem Wagankowo-Friedhof, aber Großmutter suggerierte mir liebevoll, dass Großvater in Rasdory mit mir stundenlang mit Autos gespielt habe.
Seit frühester Kindheit spielte ich schrecklich gern. Ich baute im Sandkasten eine Stadt, eine Landstraße, Brücken, Eisenbahnlinien, und dann bombardierte ich alles gezielt mit dem rot-braun gestreiften Kinderfußball. Großmutter sagte, Großvater habe mit mir auch Fußball gespielt. Ich war ein leidenschaftlicher Fußballspieler auf unserem Datscha-Grundstück und auf den Waldwiesen, wo die Bäume lediglich als Torpfosten einen Sinn erhielten, man wollte sie mal auseinander, dann wieder enger zusammenschieben, aber da ich mich an Großvater nicht erinnern kann – gegen welches Gespenst habe ich eigentlich zwischen Birke und Espe die Tore geschossen?
Außerdem fuhr ich wie ein Verrückter auf meinem Dreirad herum. Ich trat wie wahnsinnig in die Pedale, es schüttelte mich ordentlich durch, wenn ich über die Kiefernwurzeln fuhr, die sich wie verholzte Schlangen über den Waldpfad wanden, ich wurde hochgeworfen, die Klingel ertönte wie von selbst. Besonders gern fuhr ich mit Karacho durch Pfützen, mit hochgehobenen und so weit wie möglich gespreizten Beinen. Oft blieb ich mittendrin stecken, drehte den Lenker hin und her und blickte mich lange um. Ich wusste ja, dass ich stecken bleiben würde, aber das war ein überflüssiges, dummes Wissen, und ich fuhr trotzdem in die Pfütze hinein. Während ich das Mosaik der schöpferischen Ursprünge zusammensetze, wird mir bewusst, dass die Rolle von Pfützen in meinem Kinderleben kaum zu überschätzen ist. Das waren nicht nur Hindernisse, sondern auch Versuchungen. Ich schlug furchtbar gern mit einem Stock in Pfützen hinein. Die Spritzer flogen in alle Richtungen. Ich war klatschnass. Ich war ein Objekt reiner Bestrafung. Aber noch lieber rührte ich langsam mit einem Stock in der Pfütze und stocherte dann damit im schmatzenden Grund herum. Das schmatzende Geräusch verzauberte mich. Ich liebte die Abdrücke von Auto- und Fahrradreifen im Dreck; die Idee, Spuren zu hinterlassen, machte mich verrückt. Großmutter schimpfte immer, weil ich schmutzige Hände und Dreck unter den Fingernägeln hatte. Meine ganze Kindheit hindurch wurde ich rausgeschickt, um mir die Hände zu waschen und die Fingernägel zu schrubben. Ich war eine plastische Komposition, etwa wie Mädchen mit Krug , Junge am Waschbecken . Aus den schmatzenden Pfützen entstand meine Liebe zu den Frauen.
Der von mir unerkannte Iwan Petrowitsch starb an einem Herzinfarkt im Kreml-Krankenhaus auf der Granowski-Straße. Als ich etwas größer war, sagte Großmutter im Streit zu mir, ich hätte Großvater umgebracht. Mir wollte man die Schuld an seinem Tod wie eine Schlinge um den Hals legen, und ich sah sie mit meinen glühenden Augen an.
GROSSMUTTER Du hast mal wieder gequengelt und verlangt, dass er dich auf den Schultern herumträgt. Der Ärmste hat es gemacht, dabei durfte er das gar nicht.
Das war überzeugend. Damals brachten alle irgendjemanden um. Der eine die Deutschen, der andere die eigenen Leute. Ich habe Großvater umgebracht.
GROSSMUTTER Nur zwei Wochen bevor sie ihm den Lenin-Orden verleihen wollten, ist er gestorben.
Ich bin an allem schuld. Wenn man dieser Familienlogik folgt, dann musste ich, da ich ja schon Großvater umgebracht hatte, auch meinen Vater umbringen.
*
Aus meinem letzten Brief an die Eltern in Wien vom 8 . Mai 1979 :
Liebe Mama, lieber Papa,
schwer, sehr schwer ist das moralische Kreuz, das mir die Ereignisse auferlegt haben. Ich weiß
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