Der gute Stalin
Kategorie zubereitet: blutiges Roastbeef oder Huhn mit Mandeln. Die Apotheose war Mamas berühmter Zitronenkuchen. Die Frage wurde alljährlich wiederholt. Ich wurde knallrot. Dann gelangte ich zu dem Schluss, dass Winogradow ein Idiot war. Über irgendjemanden erfuhr ich, dass Winogradow eine Geliebte hatte, sie arbeitete als Kassiererin in einem Geschäft, und er brachte ihr immer Geschenke. Ich stellte mir die Liebe zwischen der Kassiererin und Botschafter Winogradow vor. Das war schön. Oma Sima, die die Meinung des Volkes zum Ausdruck brachte, verstand nicht, warum meine Eltern so viel reisten.
SERAFIMA MICHAILOWNA Ein echter Mensch hat alles in sich selbst. Er hat da drin Europa und Afrika und Rostow am Don.
»Und Neuseeland?«, fragte ich mit ernsthaft interessiertem Gesichtsausdruck.
Wie immer ohne Einladung, einmal im Jahr, tauchte frühmorgens Onkel Gelja auf, Mamas Cousin zweiten Grades aus Tambow. Mama und er saßen in der Küche und tranken Kaffee. Mama im hellblauen flauschigen Morgenrock sprach darüber, dass die Welt schön und vielgestaltig sei. Onkel Gelja mit dem listigen schmuddeligen Gesicht des Dienstreisenden, der eine Nacht in einem russischen Zug verbracht hat, vertrat die Position des Mannes aus Tambow:
ONKEL GELJA Bei uns bauen sie auch Wolkenkratzer. Schon zwei Stück haben sie fertig. Jeder hat zwölf Stockwerke.
»Heute schäme ich mich, Russin zu sein«, sagte Mutter im August 1968 zu Vater. Vater antwortete nicht. Wir stiegen in dunkle Täler voller Sonnenblumen hinab, die überreif von der Sonne waren. Die Sonnenblumen standen mit hängenden Köpfen da.
»Ich verstehe alles, aber ich sage nichts«, sagte Mama in jenen Jahren zu mir.
Ihr erschien das als Weisheit. Sie verteidigte ihr Nest. Zerrissen zwischen verlorener Hoffnung, Glauben an eine nicht existente Vernunft und der Verteidigung von Papas Interessen, ahnte sie nicht, dass der Weg zur Befreiung über diese Scham führte. Ihr naiver Egoismus entwaffnete mich lange Zeit. Für europäischen Komfort musste man mit dem Schweigen der Panzer bezahlen. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und sagte:
»Meiner Meinung nach ist das einfach Feigheit.«
Zwischen uns entwickelte sich eine dumpfe Feindseligkeit von Menschen, die sich im Geiste nahe stehen, was aber den Grad ihrer familiären Verantwortung angeht, einander fremd sind: die politische Analogie – Lenin und Trotzki. Wozu drängte ich sie? Dass sie auf dem Roten Platz demonstrieren ging? In die vollkommene Schizophrenie? Das Gespräch mit Vater begann mir wesentlich leichter zu fallen als das mit ihr. Unterbewusst suchten wir den Bruch. Er trat ein im September 1973 wegen Chile.
Was bedeutet mir jetzt noch Chile? Damals aber erreichte mein Hass auf das System, in dem ich nichts anderes sah als Ideologie, eine solche Stufe, dass Allende in meinen Augen ein von vornherein utopischer Sozialist, ein Günstling des Kremls war, und deshalb empfand ich Begeisterung über die Pinochet-Junta, den Triumph des CIA . Mir war es gerade recht, dass Allende ermordet wurde. Ich freute mich darüber, wie Moskau aufheulte. Das war der Höhepunkt meiner politischen Unzurechnungsfähigkeit: Ich war dermaßen links, dass ich rechts wurde, um meinen Gauchismus zu behaupten. Alles, nur nicht Moskau. Die Diskussion über Chile in der Moskauer Küche, voll gestopft mit Gegenständen des französischen Alltags, war kurz: Mama schrie mich an, ich sei ein Lump. Papa war wie immer in Paris. Wegen Pinochet feierten wir das einzige Mal in meinem Leben meinen Geburtstag nicht.
*
Das Land der Sowjets, dem mein Vater ergeben diente, bestahl ihn. Die Kultur wollte ihn trotz allem nicht entlassen. 1970 wurde er zum Vizepräsidenten der UNESCO ernannt. Als treuer Schüler Molotows, des ehemaligen Restaurantgeigers, der zu seiner Zeit als zweiter Mann im Staat keinen Kontakt mit Kulturschaffenden zuließ, spürte mein Vater instinktiv, dass die Kultur ein gefährlicher Sumpf mit bunten Blüten giftiger Seerosen ist. All jene an der Spitze der Sowjetmacht, die von Ballerinas, Bolschoi-Theater, Künstlerfreundschaften schwärmten wie Kirow, Kalinin und Woroschilow, standen mit einem Bein im Grab oder kamen um. Bei der UNESCO zahlte man hohe Gehälter. Papa lieferte drei Viertel seines Gehalts in der sowjetischen Botschaft ab. Nicht nur sein Assistent, auch seine israelische Sekretärin verdiente real mehr als er. Der amerikanische UNESCO -Kollege von Vater kaufte sich während seiner Amtszeit in Paris
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