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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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(unmöglich). Mit den Büchersäuberungen begann der Widerstand. Unser kulturelles Bündnis wurde durch Mutters Angst um Vater zerstört, die jedoch aus liberalen Gründen nicht verbalisiert wurde.
    MAMA Du schadest Vater. Nein und nochmals nein.
    Am meisten auf der Welt fürchtete Papa, seinen Diplomatenpass zu verlieren. Unfall, Ausraubung, Malaria, Tod von Freunden – alles Bagatellen im Vergleich zum Verlust des Passes. Den Diplomatenpass einzubüßen war, wie den Kopf unters Fallbeil zu legen. Papa trug seinen Pass überall mit sich herum und vertraute ihn nur einem einzigen Menschen an, wenn er am Strand von N’gor schwimmen ging – meiner Mutter. Wir gingen ins Wasser, und Mama passte auf meinen Bruder und den Pass auf. Mein Bruder trug eine Brille. Mit der Brille ähnelte er einem kleinen Westdeutschen. In Dakar fand ich eine Freundin für mich – die Tochter des südvietnamesischen Botschafters. Während dieser Zeit war Krieg, und wir waren Feinde. Das brachte uns einander umso näher. Wir fuhren mit ihrem 2CV nachts an unbewachte Strände und in Nachtbars. Ich kam immer frühmorgens angeturnt nach Hause, aber die Wachleute sagten nichts: Ich war unantastbar. Der Botschafter stand höher als der Resident. Der ukrainische Resident Telega tarnte sich unter dem Dach von »Sojuskinoexport« und handelte mit sowjetischen Filmen. Er konnte jedem Sowjetbürger das Leben verpfuschen. Doch niemand außer mir trieb etwas Anstößiges. Morgens angelten die Sowjetmenschen auf dem Pier Fische, um Geld für einen Wolga zu sparen, und nachts trugen sie heimlich ihren Müll auf die Müllkippe, um den senegalesischen Müllmännern kein Geld bezahlen zu müssen. Die Afrikaner lauerten den Diplomaten auf und verprügelten sie nach Strich und Faden. Mama und Papa waren in heller Aufregung. Papa führte weit weg am Strand eine Parteiversammlung durch. Dort meinte man, nicht abgehört zu werden. Telega lud unsere ganze Familie zum Abendessen ein. Die Eltern zögerten lange, aber dann sagten sie doch zu. Wir fuhren mit widerwilligen Gesichtern hin. Man stopfte uns wie Gänse. Geredet wurde übers Essen. Wenn Mama »Melone« sagte, brachte man Melone, wenn sie »Fleisch« sagte, brachte man Fleisch. Der Resident war zufrieden: Wir aßen bis zum Umfallen und tranken viel. Am nächsten Morgen angelte ich mit der Spinnangel, holte damit aus und fing das Ohr eines Franzosen. Er wartete geduldig, bis man sein Ohr vom Haken genommen hatte.
    *
    Papa verlor die Vorstellung von dem Land, das er repräsentierte. Es erschien ihm so, wie er es in den Geschenkbänden des Leningrader Verlags Aurora sah, die er den Ausländern überreichte. Es war ein Geschenkland. Es war ein großes Land. Dort gab es alles: den Baikalsee, Kishi, das Dnjepr-Kraftwerk, Flüge riesiger Vögel über der kasachischen Steppe, Palmen, Gletscher, Paraden auf dem Roten Platz, Hochwasser an der Wolga. Blieb nur noch eine letzte Anstrengung: den Lebensstandard der Bevölkerung anzuheben, doch gab es Tausende von objektiven Gründen dafür, die Lösung dieser Frage Jahr um Jahr zu verschieben. Papa war bereit zu warten.
    Ein Eigenleben führte die Prawda , die optimistischste Zeitung der Welt, in der tagtäglich das Gute das Böse besiegte, eine Märchenzeitung, die Papa nach dem Abendessen las, aber mit den Jahren, erschöpft vom Tagwerk, schlief er immer öfter darüber ein. In der Prawda klang von der ersten bis zur letzten Seite jede Überschrift so frohgemut, dass sie geradezu eine sexuelle Wirkung erzeugte. Wir Studenten amüsierten uns damit an der Universität. Wenn Papa nach Moskau kam, wusste er nicht einmal, wie und wie viel man für eine Fahrt im O-Bus bezahlen musste. Die halb leeren Geschäfte riefen bei ihm fröhliches Befremden hervor. Er war bereit, in der Bäckerei, deren Fußboden mit einer schmierigen Schicht von Sägespänen bedeckt war, ausgestreut von jener Putzfrau, die die Franzosen für »sehr schmutzige Leute« hielt, nach Brot anzustehen. Engpässe in der Lebensmittelversorgung waren für Papa ein vorübergehendes Problem, das sich auf den einen Urlaubsmonat beschränkte. Hin und wieder kam Botschafter Winogradow zu Besuch. Er wohnte eine Etage tiefer. Winogradow fragte mich mit einem verschmitzten Gesichtsausdruck, die buschigen Brauen hochziehend:
    »Na, wie läuft’s denn bei dir mit Mädchen?«
    Das hielt man für ein Zeichen der Aufmerksamkeit. Meine Eltern saßen da mit eingeschalteten Gesichtern. Es wurde ein Abendessen der ersten

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