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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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lebt er von Geldern, die ihm eben jene bezahlen, gegen die er sein Leben lang gekämpft hat. Seine unpraktische Denkweise ruft bei mir gemischte Gefühle hervor. Als er anfing, in hohen Positionen im Ausland zu arbeiten, zeigte die sowjetische Nomenklatura plötzlich Interesse an seiner Person: Er konnte deren Kindern Posten in internationalen Organisationen verschaffen. Die Stellvertreterin des Moskauer Bürgermeisters Promyslow bot ihm ein Grundstück in Barwicha an. Er hätte darauf ein Haus für zwei alte Frauen bauen sollen, die keine Erben hatten, und eines für sich. Wie sehr ich auch auf ihn einredete, er lehnte ab und erklärte, er habe keine Lust, zwei Häuser zu bauen. Dieses Grundstück kostet heutzutage mindestens eine halbe Million Dollar. Als Vater ablehnte, dachte die stellvertretende Bürgermeisterin, dass ihr Vorschlag nicht gut genug gewesen sei, und bot ihm ein ganzes Landgut mit einem Grundstück von einem Hektar in der Nähe von Nikolina Gora an. Vater und ich fuhren hin. Es war ein traumhafter Gutshof, mit Wald und einem munteren Bach, der über das Grundstück plätscherte. Das Gutshaus mit Säulen und sechzehn Zimmern war wohl in der ersten Hälfte des 19 . Jahrhunderts erbaut worden. Wir ließen den Wagen an der Straße stehen und liefen zum Haus. Dieses Angebot – das Landgut ist heute vermutlich nicht weniger als zwei Millionen Dollar wert – konnte nur ein Vollidiot ablehnen. Vater lehnte ab. Dabei besorgte er dem Sohn der stellvertretenden Bürgermeisterin einen Arbeitsplatz bei einer internationalen Behörde – einfach so. Ein Heiliger oder ein Einfaltspinsel? Oder beides? Vater war ein heiliger Kommunist. Er kaufte sich erst sehr spät ein Auto, als er schon Botschafter war; noch später baute er eine bescheidene Datscha, um die herum er selbst den Rasen mäht – Luxus war nicht sein Stil.
    Als Molotow schon sehr lebensmüde war und sterben wollte, bat er darum, Schewardnadse, der unter Gorbatschow Außenminister war, zum Rapport zu ihm zu zitieren. Unter der Maske des verstoßenen Pensionärs trat das wahre Gesicht des Hausherrn zu Tage. Ich glaube, dass Vater sich nicht selten im Traum mit Papieren unterm Arm zu Molotow begibt. Wenn Molotow gute Laune hatte, fragte er Vater:
    »Na, wie geht’s, Jerofejitsch?«
    Wahrscheinlich kommt das auch in Papas Träumen vor.
    *
    Mich rettete die Liebe. Meine treue Liebe zu Europa fand ihre Verkörperung. Im ersten Studienjahr an der Universität verliebte ich mich in meine zukünftige Frau. Sie kam aus Warschau. Wir besuchten zusammen eine Vorlesung zur altrussischen Literatur im Hörsaal 66 . Sie war anders als die sowjetischen Studentinnen. Wir rauchten so schön auf der Hintertreppe, die Lammfellmäntel – für die damalige Zeit etwas Ausgefallenes – umgehängt, dass wir als das schönste Paar der ganzen Universität galten. Wahrscheinlich war es auch so. Sie bot mir polnische Zigaretten der Marke »Carmen« an, die eine amerikanische Tabakmischung enthielten. Sie fuhr mit Vater und Bruder in einem traumhaften grauen Mercedes 190 mit Diplomatennummer herum: Ihr Vater arbeitete in der polnischen Botschaft.
    Ich stand an der Ecke der Alexej-Tolstoi-Straße, in der Nähe des schwarzen wuchtigen Botschaftsgebäudes mit der schönen Fahne und mit riesigen erleuchteten Fenstern, hinter denen sich luxuriöses Leben abspielte, mit dem stolzen Adler auf dem goldfarbenen Schild, das am Gebäude angebracht war, und wartete, dass sie in ihrem engen blauen Kleid mit dem weißen Gürtel, an dessen Enden goldene Münzen funkelten, herauskam, dem die Botschaft bewachenden Milizionär höflich zunickend. Wir küssten uns in Hauseingängen und ausländischen Autos, die ihre Freunde sich bei ihren Eltern ausliehen. In der Buchhandlung »Freundschaft« kauften wir Bücher mit polnischen Gedichten, die Schutzumschläge aus Zellophan hatten. Wie leicht und zärtlich sie Gał-czyn-ski aussprach. Ihr polnisches »l« mit dem Strich durch war so viel wert wie alle Gedichte zusammen. Ihre hart ausgesprochenen Endkonsonanten erfüllten mich mit Liebe. Sie machte sich lustig über mich, weil ich mir selten die Fingernägel schnitt, und ich fand, das sei die Stimme Europas. Das Leben besteht aus großen und kleinen Komplexen, mit deren hoffnungsloser Überwindung es auch vorübergeht.
    *
    In seinen Beziehungen zu Frauen war Papa mir überraschenderweise näher, als man hätte annehmen können. Darin war er mir ein Rätsel. Mein Vater hatte eine einzige

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