Der gute Stalin
sozialistischer Waren nur hoffnungslos ab. Andererseits war er ein traditioneller polnischer Antisemit. In Polen, wo unter dem Deckmäntelchen des Kommunismus alles mit der Energie des Widerstands sang und tanzte, wo die jungen Leute die Staatsmacht verhöhnten, wo es in jeder Kirche nach Ungehorsam roch und die polnischen Intellektuellen nicht nur erreichten, dass Joyces Ulysses übersetzt wurde, sondern auch noch dafür sorgten, dass die Übersetzung einen Staatspreis erhielt, was in Moskau undenkbar gewesen wäre – dort lebte meine polnische Familie in einem seltsamen Zustand der Verstandestrübung; es galt als ungehörig, sich von zu Hause zu entfernen, um ins Kino zu gehen, der Kauf ausländischer Zeitschriften wurde als Verschwendungssucht bezeichnet, und alle zusammen mussten auf dem Sofa fernsehen und die Aufmachung der Ansagerin kommentieren. Und trotzdem, ungeachtet all dieses nervösen Schwachsinns, liebte ich meine polnische Familie. In der Zweizimmerwohnung in der Dynasy-Straße, die mit Kopfstein gepflastert war und bergauf zur Universität führte, hörte ich viele Geschichten, wie sie im Widerstand und beim Warschauer Aufstand mitgemacht hatten und wie Zygmunt nach dem Krieg in der zerstörten Stadt gelbe Narzissen für seine Frau gekauft hatte.
Ich traf meine Wahl: 1976 fuhr Wiesława nach Warschau, um Oleg zur Welt zu bringen, damit er polnischer Staatsbürger würde. Ich bin überzeugt, dass Zygmunt und Elżbieta ihr Leben ehrlicher gelebt haben als meine Eltern. Zygmunt wurde nach Paris geschickt, um in der polnischen Botschaft zu kochen, er war ganz berauscht vom Überfluss an verschiedenstem Fisch auf dem Markt am Invalidendom und freundete sich mit den Fischverkäufern an, ohne ein Wort Französisch zu sprechen, während meine Eltern in höheren Sphären bei der UNESCO schwebten. Wiesławas Mutter, Pani Elżbieta, in der Nähe von Poznan geboren, arbeitete als Büfettiere. Redselig, immer gut frisiert, erzählte sie gern, wie die geladenen Gäste auf Empfängen die Gläschen mit polnischem Wodka von ihrem Tablett nahmen und angenehme Dinge sagten:
»Pani Elżbieta, Sie haben auf Ihrem Tablett den besten Wodka.«
Wiesława bekam rote Flecken vor Verlegenheit. Sie ließ sogar geräuschvoll Winde entweichen, als wir telefonisch aus Warschau erfuhren, dass ihre Eltern nach Paris gehen würden. Sie lebten mit meinen Eltern in einer Stadt und trafen sich nicht, weil Mama sie für Plebs hielt. Doch als die französische Verkäuferin in dem zollfreien UNESCO -Geschäft, das der Elite vorbehalten war, ihr den Preis für Colgate-Zahnpasta erläuterte, meinte Mutter, dass man sie für knickrig halte und verspotte. Vor Ausländern streckte sie die Waffen und machte nur eine – die polnische – Ausnahme. Als sie nach Moskau fuhr, lief Papa allerdings demokratisch zu den polnischen Verwandten zum Abendessen und trank »Jarzębiak«. Zygmunts weihnachtliche Pilzsuppe war fortan für mich nicht schlechter als Puschkins Gedichte.
*
Vater erzog mich natürlich nicht zum Dissidenten, das wäre ihm in seinem schlimmsten Albtraum nicht eingefallen, aber er zeigte mir die Welt, und das war genug. Ich bin nie ein Sowjetmensch geworden. Die häuslichen Umstände wurden immer schizophrener und paradoxer. Vater und ich waren beide Idealisten, vertraten unsere Ansichten auf ähnliche Weise, und genau das trennte uns. Auf menschlicher Ebene liebten wir uns zweifellos, aber der ideologische Konflikt wuchs sich mit den Jahren zu einem unerklärten Krieg aus. Wir wussten nicht, was wir damit machen sollten. Ich war, ohne es zu wollen, Nutznießer seiner Situation: Ich trug teure französische Pullover und Wildlederjacken; ich sah aus wie ein westlicher Playboy und besaß einen sowjetischen Diplomatenpass. Unsere offenen Auseinandersetzungen waren seltene, aber heftige Gewitter. Sie kannten buchstäblich keine Grenzen, verstreut über die Karte seiner Einsatzorte. Unser Streit begann unter Mangobäumen und Baobabs – in Afrika, dann ging es weiter in Europa. Einmal (er war damals Vizepräsident der UNESCO und ich ein langhaariger Student an der Philologischen Fakultät der Staatlichen Universität Moskau) stritten wir in seinem schicken Citroën den ganzen Weg von Paris nach Amsterdam, wir fuhren von Frankreich durch Belgien nach Holland über die traumhaften, von gelben Nebellaternen erleuchteten Autobahnen, ohne die durchlässigen Grenzen zu bemerken, immer unzufriedener miteinander, und konnten uns bald nicht
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