Der gute Stalin
zurück an seine Arme, Beine, Genitalien, wo sie kleben bleiben. Die gefressenen Innereien werden von dem Hunderachen wieder ausgekotzt und streben zurück in den offenen Bauch des Herrn. Die Einschusslöcher ziehen sich zusammen. Die Blutflecken verschwinden von den Wänden, die Blutlache vom Fußboden. Der Bauch schließt sich und bedeckt sich mit Haaren, die irgendwann einmal von den Frauen gern gestreichelt wurden. Der Verwesungsgeruch verflüchtigt sich. Das Herz schlägt. Der Herr steht auf, geht zur Garderobe, der glückliche Hund läuft ihm schwanzwedelnd nach, voller Vorfreude auf den bevorstehenden Spaziergang. Das Halsband ist angelegt. Die Tür zum Treppenhaus steht offen. Herr und Hund laufen die Treppe hinunter, die Tür schlägt zu, sie stehen auf der Straße. Während der Hund in der nächsten Grünanlage sein Geschäft macht, blickt der Herr sich um. Er ist nicht ausgegangen, um zu diskutieren oder sich zu rächen. Er sucht die süße Versöhnung nicht nur mit seinen Feinden, sondern auch mit sich selbst. Er lächelt. Er ist glücklich.
*
Ich habe nur ein einziges Mal im Leben auf Stalin getrunken, das war an meinem fünften Geburtstag. Kinder waren eingeladen, darunter die zwei hochbegabten Brüder Podzerob: Kirill, im Vorschulalter, der zunächst Säufer werden und in eine Schüssel kotzen sollte, die stets unter seinem asketischen Bett bereitstand, später dann Drogenabhängiger, der im Traum- wie im Wachzustand auf den Schultern seiner Großmutter durch ihre riesige Wohnung ritt, und der Schüler Ljoscha, ein zielstrebiger Junge, der sich früh und ekstatisch aus irgendeinem Grund in den Nahen Osten verliebte, welcher in großem Maßstab bei ihm an der Wand hing (wenn ich diese Karte betrachtete, wurde ich neidisch und bekam Lust, ebenso leidenschaftlich etwas ins Herz zu schließen, irgendeinen Erdteil, Afrika gefiel mir visuell, aber ich wusste nicht, wozu es nötig war, Amerika war in einer kalten, feindlichen Farbe dargestellt, Russland zu lieben kam mir damals noch nicht in den Sinn – so dass ich mit leeren Händen dastand), und in der Folge wie auf Schienen geradewegs seiner Lebensbestimmung entgegeneilte: Er wurde Botschafter der Sowjetunion in einem arabischen Land. Ljoscha wusste alles besser als andere, jedenfalls aber besser als ich. Mit mir war er immer nachsichtig und sprach so selbstsicher und kundig, dass ich verlegen wurde und, um nicht den stummen Zuhörer abzugeben, dumme, wirre Fragen stellte, wobei ich von einem Moment auf den anderen diametral entgegengesetzte Ansichten vertrat. Mama, die meine ganze Kindheit hindurch panische Angst hatte, aus mir könnte ein Einfaltspinsel werden, da ich keinerlei Anzeichen zeigte, ein Wunderkind zu werden, stellte mir Ljoscha und Milotschka Woroschzowa, die kleine Schönheit mit den schwarzen Locken, als Vorbilder hin. Ich gab zu wenig Hoffnung Anlass, ehrlich gesagt, zu praktisch überhaupt keiner, und im Bewusstsein meiner geistigen Beschränktheit wagte ich es nicht einmal, mich in Milotschka zu verlieben.
Gerade hatten wir uns an den Tisch gesetzt, gerade war der Tomatensaft ausgeschenkt worden, gerade hatte Marussja die dampfende Pastete aus der Küche hereingetragen, als der ältere Sohn von Boris Fjodorowitsch vom Stuhl aufsprang, die Lippen vorstülpte, als ob er ausspucken wollte, er redete immer, als ob er spuckte, aber stattdessen brachte er den ersten Toast nicht auf mich, sondern auf Stalin aus.
LJOSCHA Ich schlage vor, auf den Genossen Stalin zu trinken!
Alle standen auf. Am Tisch machte sich nicht direkt Verwirrung breit, aber meine Mutter war erstaunt: Bei uns zu Hause wurde nicht auf Stalin getrunken, das passte nicht zu uns: weder politisch, noch was das Pathos betraf. Ich spürte die Verlegenheit und hob mein Glas zum Anstoßen, um die Situation zu entschärfen. Außerdem gefiel mir das Anstoßen sehr, denn alle Erwachsenen machten das, nur ich hatte bis dahin nicht die Gelegenheit gehabt, so richtig anzustoßen. Außerdem war mir wieder die Begeisterung für den Jungen, der älter und vollkommener war als ich, zu Kopf gestiegen.
Die Geburtstagsfeier endete mit Blutvergießen. Ich tobte um den Tisch herum den Gästen hinterher, der unerreichbaren Milotschka, der Generalstochter, die nicht zu erwischen war, und dann knallte ich gegen die Tischkante und riss mir den Mundwinkel ein. Den Riss sieht man bis heute. Mein Mund ist, genauer betrachtet, asymmetrisch.
Mama packte mich, blutüberströmt, wie ich war, und
Weitere Kostenlose Bücher