Der gute Stalin
brachte mich in die Kreml-Poliklinik auf der Siwzew-Wrashek-Straße, wo es in der Eingangshalle viele Palmen gab und der Pförtner sich entschieden weigerte, uns hineinzulassen, weil Mama ihren Passierschein vergessen hatte.
Ich wurde vor Schreck und Scham ganz rot – man wollte uns nicht hineinlassen. Man verweigerte uns den Eintritt so lange, dass ich seitdem den Eindruck nicht loswerde, meine ganze Kindheit über sei Blut aus meinem Mund geflossen. Mama verwandelte sich in eine rasende Tigerin, brüllte den Pförtner an, flehte und drohte, aber der Pförtner war unerbittlich.
Er blieb unerbittlich.
*
Das schmerzliche Missverhältnis zwischen Teilen meines »Ichs« sühnte ich durch Vatermord. Dadurch brachte ich mich in Einklang mit meiner Bestimmung, deren Sinn sich im Laufe meines weiteren Lebens abspulte. Ich sprang in mein Schicksal hinein, obwohl mir immer wieder neue Zweifel kamen. Die kindlichen Brüche, der Riss im Mund, sind mir erhalten geblieben. Die erlangte Beständigkeit wurde kein lebenslanges Mandat. Menschliche Schwächen lenkten mich auch später ab, beeinträchtigten meine Aufmerksamkeit und verhinderten, Prüfungen mit der Leichtigkeit eines durchtrainierten Sportlers zu bestehen. Im Gegenteil, ich stürzte mehrmals schmerzhaft und leckte danach lange meine Wunden. Aber immerhin gelang es mir, mit diesem Cocktail, den ich darstellte, mit seinen Ingredienzen zurechtzukommen. Nicht alles begriff ich, und nicht alles ist mir gegeben zu begreifen, aber Russland hat mir geholfen. Ich weiß nicht, ob ich mich bedanken sollte. Ich wurde mit einer geheimen Mission dorthin (hierher) geschickt. In Russland zu leben, das ist wie an der Decke entlangzulaufen. Wie eine auf den Kopf gestellte Sichtweise. Ich weiß nicht, wo meine wahre Heimat ist. Auf der Landkarte existiert sie wahrscheinlich nicht. Das Paradies meiner Kindheit war jedenfalls Russland.
2
Meine Geburt habe ich einer so ungeheuren Anhäufung von weltumfassenden Umständen zu verdanken, dass ich sie als puren, auf ihre Weise aber fein gesponnenen Zufall ansehen muss. Frucht einer »zufälligen Familie« par excellence, würde ich wohl, nicht ohne die Hilfe des Dichters Ossip Mandelstam, von allen möglichen heraldischen Emblemen für mich ein krummes Queue, eine schartige Kugel und einen löcherigen Beutel wählen, und sei es auch nur, weil weder mein Vater noch ich jemals anständige Billardspieler waren. Selbst die nächsten Vorfahren leben in meinem Bewusstsein namenlos, nur vage definiert durch verschwommen überlieferte Berufe, teils echte wie Artelmitglied oder Pope, teils äußerst fiktive wie etwa Berufsrevolutionär, als welchen meine Großmutter nicht ohne Hintergedanken ihren mir unbekannten Vater, Nikandr, in mein Gedächtnis einpflanzte. Meine Großmutter hatte überhaupt eine blühende Fantasie. Mütterlicherseits besteht allerdings tatsächlich eine entfernte Verbindung nicht nur zum wenig imposanten Adel ihres Großvaters, Dienstadel sozusagen, sondern auch zur russischen Kultur, und zwar über ein sehr verwickeltes Geflecht von Schwägern und Schwägerinnen, genauer gesagt, über das ziemlich pittoreske Geschlecht der Kjandskis: zu Popow, dem Erfinder des Radios, zumindest innerhalb Russlands, anscheinend zur Familie des Chemikers Mendelejew, schließlich wohl auch zu Alexander Blok. Aber das ist nicht einmal mehr als entfernteste Verwandtschaft zu bezeichnen, sondern eher als Familienlegende.
Ich weiß nicht recht, wo beginnen mit der Geschichte von der zufälligen Verschwörung einzelner Umstände, die jedem Ehrbegriff und dem gesunden Menschenverstand widersprechen, und darum würde ich gern auf die wenig bekannte fehlgeschlagene englisch-amerikanische Intervention bei Murmansk nach der Oktoberrevolution eingehen. Irgendwann konnte man im Fernsehen die verwahrlosten zugeschneiten Gräber sehen. Meine fantasievolle Großmutter väterlicherseits, Anastassija Nikandrowna Ruwimowa, war eine sehr hübsche Frau. Sie lebte an der finnischen Grenze, in Sestrorezk, wo ihr Vater fünf Sommerhäuschen besaß, die er vermietete. Sie war jeden Tag fünfzig Werst auf Skiern unterwegs und gefiel einem Finnen namens Jukko. Nicht lange bevor sie starb, sah sie sich im Fernsehen ein Eishockeyspiel zwischen Russland und Finnland an und sagte, eingedenk des verpassten ruhigen Lebens, leicht nostalgisch zu mir:
»Wenn ich den Jukko geheiratet hätte, dann würde ich jetzt für Finnland die Daumen drücken.«
Ein stattlicher Kerl
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