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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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deklamierte er im Zimmer des Wohnheims für Vater Stadtfolklore:
    »Ein Häuflein Lumpen gibt’s im Lande:
    die Stalin-Trotzki-Lenin-Bande.«
    Vater grinste vage. Alle fröhlichen Geburtstagsgäste bei Klyschko wurden am nächsten Tag als Teilnehmer einer »antisowjetischen Zusammenrottung« verhaftet.
    »Das hat mich erschüttert. Aber ich wusste, dass Sergej sich ungeniert benahm, Witze erzählte und ›antisowjetische‹ Gedichte vortrug. Wahrscheinlich hat sie jemand denunziert. Die Mädchen wurden bald wieder freigelassen, aber die Jungs haben lange gesessen, einem haben sie die Rippen gebrochen. Kostja Iwanow haben sie in die Nieren geboxt, bis er halb tot war, um ihn so zu einer Aussage zu zwingen, obwohl er an jenem Abend vom Wodka am Tisch eingeschlafen war und gar nichts gesehen und gehört hatte. Sergej wurde zum Tode verurteilt.«
    »Für Verse die Todesstrafe?«, fragte ich melancholisch.
    »Mir war klar, dass er sie nicht hätte vortragen sollen.«
    Dagegen war schwerlich etwas einzuwenden. Unser Gespräch drehte sich im Kreis und versandete bald. Den Massenterror, der ringsum stattfand, überall, nebenan, über den Tausende von Büchern geschrieben worden sind, nahm man in Vaters Familie lange Zeit nicht wahr. Man setzte sich nicht darüber hinweg, zog sich nicht in eine Ecke zurück, sondern beachtete ihn einfach nicht. Allerdings wurde so viel und so massenweise verhaftet, dass es einem schließlich doch unheimlich wurde. Die Leningrader Universität, voller philologischer Begabungen, wurde durchkämmt. Den bärtigen Latein-Dozenten nahm der NKWD vor den Augen meines Vaters während seiner Vorlesung gleich im Hörsaal fest. Man verhaftete ihn so elegant – der junge Tschekist reichte ihm sogar seinen Mantel –, man führte ihn so freundlich, ihm auf die Schulter klopfend, aus dem Hörsaal, dass der Lateiner lächelnd mitging, als wäre er auf dem Weg in die Professorenmensa, um Tee zu trinken. Aus dem engen Bekanntenkreis unserer Familie, der sich samstagabends auf dem Sagorodny-Prospekt bei Iwan Petrowitsch und Anastassija Nikandrowna zum Mau-Mau-Spielen traf, holte man den Eisenbahner Petuchow, Parteimitglied und Ordensträger. Petuchow stellte manchmal abstrakte Fragen:
    »Iwan Petrowitsch, kann man bei Regen auf der Straße zwischen den Wassertropfen hindurchgehen, ohne nass zu werden?«
    »Tja, dafür müssten wir beide wohl erst mal abnehmen«, scherzte Iwan Petrowitsch.
    Als Petuchow verschwand, fragte sich die Familie ratlos: »Wofür?«, aber dann kam man zu dem Schluss: »Die werden schon wissen, wofür.«
    *
    Vaters Leben änderte sich von einem Tag auf den andern. Im September 1939 bestellte man den Studenten im dritten Semester per Vorladung in die Wiege der Revolution, den Smolny. Das väterliche Schicksal in Gestalt eines kommunistischen Sekretärs des Stadtkomitees drückte ihm zur Begrüßung die Zeitung Leningradskaja Prawda mit einem Foto von Stalin, Molotow und Ribbentrop, die ein Lächeln austauschten, in die Hand. Das war die sowjetisch-nazistische Hochzeit.
    »Weißt du, wer der junge Mann neben Stalin ist?«
    »Ein Dolmetscher«, begriff Vater.
    »Möchtest du auch so ein Dolmetscher werden?«
    »Ja.«
    »Wer sind deine Eltern?«
    Gegen den parteilosen Eisenbahner Iwan Petrowitsch gab es keine Einwände. Anastassija Nikandrowna arbeitete damals schon nicht mehr. Sie war zuletzt Sekretärin in der Leningrader Filiale von Sojusfoto gewesen, die den Lokalzeitungen die Fotos lieferte. Sie nahm die Aufträge entgegen, gab die Filme zur Entwicklung und ließ Abzüge anfertigen. Die progressive Welt der Fotografie machte aus ihr eine bedeutende und sogar ein wenig kapriziöse Person. Meine ganze Kindheit über erwähnte sie immer wieder den komischen Namen ihres Vorgesetzten, der Tjunkin-Rjumkin oder so ähnlich hieß und den sie sehr gern mochte: Für sie war er wichtiger als alle Kunden auf den Fotos, ganz zu schweigen von den Fotografen, die ihr den Hof machten. Dabei lernte Großmutter verschiedene Berühmtheiten, einschließlich sowjetischer Autoren, kennen. Über Schriftsteller äußerte sie sich stets ablehnend und litt sehr, als ich Schriftsteller wurde.
    GROSSMUTTER Schriftsteller? Bist du verrückt? Alle Schriftsteller sind Trinker.
    »Er kam manchmal bei uns vorbei, stand da und schwankte«, sagte sie und brachte Twardowski und Simonow durcheinander, Katajew und Fadejew.
    Es war die Zeit der kollektiven Fotografien. Alle ließen sich so ablichten, reihenweise, in

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