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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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namens Iwan mit schönen dunklen Ringen unter den Augen machte ihr den Hof. Im Jahre 1918 zog Großmutters Familie, um dem Hungertod zu entgehen, von Petrograd nach Karelien. Iwan verhehlte nicht seine Absicht, Anastassija zu ehelichen, doch da fielen die Amerikaner ein.
    Bei der karelischen Eisenbahn arbeitete ein hinterlistiger junger Mann mit Zwicker als Buchhalter. Die Bolschewiki übertrugen ihm die Verantwortung für die Mobilisierung. Bezaubert von der Schönheit meiner Großmutter, setzte Iwan Petrowitsch Jerofejew den stattlichen Iwan als Ersten auf die Mobilisierungsliste, obwohl der eigentlich freigestellt war. Iwan wurde kahl geschoren, nach Murmansk geschickt und galt nach den Kämpfen mit den Amerikanern als verschollen.
    Weiterhin folgte das reinste Opernintermezzo. Man hört förmlich die Arie der Tatjana aus Jewgeni Onegin : »Doch ich gehöre einem andern, entschieden ist mein Los, ich werd ihm treu sein bis ins Grab …« Im Jahre 1920 , zurück in Petrograd, begegnete Anastassija Nikandrowna zufällig auf der Straße ihrem ersten Iwan.
    *
    »Zu spät, Wanja«, sagte Großmutter, die schon mit meinem Vater schwanger war. Die Amerikaner sind meiner Meinung nach nicht umsonst bei Murmansk umgekommen.
    Um das Leben bunter zu gestalten, hat meine Großmutter später den Stammbaum ihres Mannes in grellen, etwas geschmacklosen Farben ausgemalt. Ihren Erzählungen zufolge war mein Urgroßvater Pjotr Jerofejew ein attraktiver Bilderbuchhüne vom Dorf, ein vermögender Müller in gewichsten Stiefeln, der in einem geräumigen Haus mit geschnitzten Fensterrahmen wohnte, ein Mann mit immer wieder neuen Frauen und Vater von neunzehn Söhnen, deren Letzter geboren wurde, als er schon auf die achtzig zuging. Dem Mann mit dem Zwicker selbst wurde keine weitere Ausmalung zuteil, allerdings wurden sein sanftes Gemüt hervorgehoben sowie seine Zerstreutheit, Letztere durch die Geschichte mit dem »Eskimo«-Eis illustriert, das bei einem Spaziergang in der Tasche seiner Sonntagshose schmolz, auch dadurch, dass er Großmutter, wenn er böse auf sie war, »Kommissar« nannte, was wiederum seine Verfassung nach der üblen Tscheka-Geschichte in der Gorochowaja-Straße einigermaßen nachvollziehbar machte. Dort hatte der eiserne Felix Dsershinski beim Verhör unter vorgehaltenem Revolver von ihm verlangt, den Ort eines Geheimfachs, in dem sich angeblich Gold befand, preiszugeben, von dessen Existenz Großvater aber nicht die geringste Ahnung hatte.
    IWAN PETROWITSCH Gott sei mit uns! Was für Gold?
    DSERSHINSKI Gutt ist nicht mit uns. Gutt ist gegen uns. Aber wir machen ihn fertig.
    Iwan Petrowitsch begriff, dass Dsershinski »Gott« polnisch aussprach, und dieser »Gutt« erschien ihm fern und dunkel. Er zog seinen Ehering vom Finger und reichte ihn Dsershinski.
    IWAN PETROWITSCH Das ist alles, was ich habe.
    DSERSHINSKI Stecken Sie ihn wieder an. Keine Demonstrationen. Nemser!
    Nemser kommt mit dem Gesicht eines Dichters herein.
    DSERSHINSKI Schicken Sie diesen Bürger (prüfend betrachtet er Iwan Petrowitsch, der aussieht wie eine mit Mehl bestäubte Made) … nach Hause!
    In meine Gene hat sich der Tod so tief eingegraben, dass zu meinen ersten Kindheitserinnerungen ebender Strommast bei unserer Datscha mit Totenschädel und zwei gekreuzten Knochen gehört; der Schreckensmast – berührst du ihn, fällst du tot um. Als Großmutter aus jugendlichem Leichtsinn Bolschewitschka werden wollte, um bei der Überwachung der Getreideablieferung mitzumachen, drohte ihr Großvater:
    »Wenn du in die Partei eintrittst, lasse ich mich scheiden!«
    »Schade«, sagte Großmutter zu mir, als ich noch klein war. »Ich hätte Parteiveteranin werden und im Radio sprechen können.«
    In den zwanziger Jahren wurden meine Großeltern gemeinsam mit dem halben Land zu verdrossenen Durchschnittsbürgern, die sich unter Qualen in den Sozialismus einlebten. Und so wurde denn auch mein Vater geboren, der glücklich acht Jahre geworden war, bis er in den Ferien in die Wolga fiel – wie durch ein Wunder wurde er vor dem Ertrinken gerettet. Vater, der später nie von seiner langweiligen leidvollen Kindheit erzählte, schloss die Schule mit lauter Einsern ab und bewarb sich am Arktis-Institut, da er sich für die Heldentaten der sowjetischen Polarforscher begeisterte. Aber es wurde doch kein Tscheljuskinez aus ihm; Papa wurde aus Gesundheitsgründen (schwache Lunge) nicht aufgenommen. Zur Freude meines Großvaters, der Hauptbuchhalter bei der

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