Der gute Stalin
Gruppen, ganze Fabriken, Schulen, Krankenhäuser, und verwandelten sich auf solche Weise in Sowjetmenschen. Einmal ließ Sojusfoto ein Gruppenbild durch, in das sich der Volksfeind Pjatakow eingeschlichen hatte. Die wachsame Zeitung druckte das Foto nicht, aber es gab einen Skandal.
»Woher soll ich denn wissen, wie er aussieht?«, sagte Großmutter als Rechtfertigung zu ihrem geliebten Vorgesetzten Tjunkin-Rjumkin. Auf Wunsch von Iwan Petrowitsch quittierte sie für alle Fälle rasch den Dienst. Tjunkin-Rjumkin wurde aus der Partei ausgeschlossen.
»Wir schicken dich nach Moskau«, sagte der Smolny zu meinem Vater. Vater widersprach nicht. Später sagte er scherzhaft zu mir, dass er, wenn er nicht zugestimmt hätte, womöglich irgendeine Dissertation über die Rolle der Artikel oder Präfixe in der französischen Sprache des 17 . Jahrhunderts verfasst haben würde. Die Philologie rang ihm keinen Respekt ab. Sie war langweilig wie seine Kindheit. Zur angegebenen Zeit fand sich Vater auf dem Oktober-Bahnhof ein, um nach Moskau zu fahren und dort am Dolmetscherinstitut des ZK der KPR ( B ) zu studieren. Der Abschied von Eltern und Freunden auf dem Bahnsteig war bewegend.
»Gute Reise!«, sagten sie.
»Bis bald«, antwortete er.
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Vaters Weg führte ihn unter Leute, deren Sichtweise jede Individualität ausschloss. Dankbarkeit gegenüber dem Regime für die Chance der Hochschulausbildung, des beruflichen Aufstiegs – das war an sich nicht das Schlimmste. Ihnen ging es nicht darum, wie Emporkömmlinge das System zu benutzen, sie verinnerlichten es und sahen nur das, was sie sehen sollten. Sie hörten auf zu sein, von Anfang an unterbewusst zum Opfer bereit. Nicht nur, dass das System jene verhinderten Dichter vernichtete, die auch nur ein wenig auf sich halten, es nährte sich vor allem von ihrer Nichtexistenz. Der Opfer fordernde Terror war keine Laune, sondern die Logik seines Überlebens, die geniale mathematische Schlussfolgerung aus der Differenz zwischen der versprochenen Zukunft und dem menschlichen Material, das es umzumodeln galt. Stalin erklärte der menschlichen Natur den Krieg. So etwas hatte in der Geschichte noch nie jemand getan. Das Volk ein Haufen Schurken, die Genossen der Partei ein Scheißdreck. Sie alle, selbst Molotow, zog es zurück, in die Rechtsabweichung, zum Futtertrog des Privatbesitzes. Eine metaphysische Herausforderung, eines ehemaligen Priester-Seminaristen würdig. Der Erfolg der Unternehmung war abhängig sowohl von der russischen Gefügigkeit als auch von der ständigen Liquidierung jener Elemente, die diese Differenz noch in ihrem Kopf hatten. Die Zukunft war wie ein freudiger Seufzer über die Auflösung dieser Antinomie.
Zunächst wunderte ich mich, und dann begriff ich meinen Irrtum, als Vater sagte, er sei in Anwesenheit von Stalin nicht aufgeregt gewesen. Im Unterschied zur Intelligenzija, die beim Anblick des Führers nervös wurde und vor Aufregung Witze über Stalin produzierte, existierte Vater als einer seiner Fortsätze, als zusätzliches Lichtquant. Aus dieser Lage findet man schwer nach Hause zurück.
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Das Dolmetscherinstitut des ZK der KPR ( B ) am Miusskaja-Platz war wie das Lyzeum von Zarskoje Selo, nur Baujahr 1939 . Auf hundert Studierende kommen hundert Dozenten und Verwaltungsangestellte. Die Studierenden lernen die Sprachen bei Ausländern, zwischendurch bekommen sie gutes Essen, und ihre Zimmer werden sogar sauber gemacht. Hier, an der Englischabteilung, studiert meine tief gekränkte Mama aus Nowgorod: Papa hatte angefangen, ihr den Hof zu machen, sie sogar einmal bei einem Rendezvous geküsst, doch für Mama, die in einer neuen orangefarbenen Bluse dasaß und wartete, gab es kein weiteres Treffen; er lief zu ihrer hübschen Freundin und Mitbewohnerin in dem schmalen Zimmer über, der rothaarigen Ljuba, die nach den Treffen mit Vater stolz und mit dem Hintern wackelnd im Wohnheim auftauchte. Der von Ljuba verschmähte Dichter Boris Smolenski, der ihr viele Gedichte gewidmet hatte, quälte sich nicht weniger als Mama, doch es ergab sich keine Affäre zwischen ihnen aufgrund der gemeinsamen Leidensgeschichte. Mama stürzte sich in die Sprache und wurde ein intelligentes Mädchen, die ihre Liebe zur Kunst entdeckte. Vater spielt im Studententheater. Im blau-weiß gestreiften Matrosenhemd kommt er auf die Bühne gestürmt, das Schiffsdeck, schreit mit weit aufgerissenen Augen »Wahrschau!« und verschwindet wieder in den Kulissen. Das Theater sagt ihm
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