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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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des Rigaer Bahnhofs, in einem Diplomatenhaus, dessen Hof ein Milizionär bewachte. Ich musste all meine nichtsowjetischen und nichtrussischen Seiten zusammennehmen, um, den rostroten Schafspelz mit dem noch jungfräulich weißen Innenfell lässig aufgeknöpft, diesen Hof wie selbstverständlich zu betreten, ohne Verdacht zu erregen. Das war ein Test nicht nur in der Hinsicht, ob ich als Ausländer durchging, sondern auch, ob ich frech genug war für eine Tat, die ich in jener Zeit hätte teuer bezahlen können. Mehr noch, es war mein erster dissidentischer Ausbruch aus der Umlaufbahn der sowjetischen Welt, ein so intensives und grenzenloses Erlebnis, dass es mich endgültig aus den traditionellen russischen Literaturgleisen warf. Gerade erst im Begriff, mit dem Schreiben anzufangen, mit starken Selbstzweifeln, ohne Selbstvertrauen, lediglich von einem hartnäckigen Vorgefühl erfüllt, erlebte ich mein Island wie den Eintritt in einen Roman, wie die Verwandlung meines Lebens in einen göttlichen Text.
    Wenn ich später immer wieder diesen Text verdarb, kehrte ich jedes Mal gedanklich zu Island zurück als zu seiner Quelle, zu seiner Grundidee, seinem unerreichbaren Vorbild. Island wurde das Land meines Sündenfalls, meiner absolut verbotenen, ungesetzlichen Liebe. Mein Island war ein paar Jahre älter als ich und arbeitete als Diplomatin in der kleinsten Botschaft der NATO -Länder, die sich in einer stillen Gasse in der Nähe der Worowski-Straße befand, ich war noch Student im letzten Semester, gerade erst frisch verheiratet und in Erwartung meiner jungen Frau, die in ihrem osteuropäischen Heimatland wegen Verschleppung der Visaerteilung hängen geblieben war. Und da, es ist der siebte November, bringt eine Gruppe von angeheiterten Freunden, allesamt aus der Filmszene, Island in die Wohnung meiner abwesenden Eltern mit, Island und ich stehen auf dem morschen kleinen Balkon des elterlichen Schlafzimmers, dessen Fenster auf den Hof hinausgehen, und sehen uns das sowjetische Feuerwerk an, und sie tut das mit solch einer Freude, mit solch einem echten Glücksgefühl, dass ich verstehe, das ist ein Glücksfeuerwerk zu unseren Ehren. Und wie es nur in jungen Jahren vorkommt, tauchen alle rhythmisch irgendwo unter, gehen auseinander, lösen sich in Luft auf, als wäre es so vorherbestimmt gewesen, dass es keine Verzögerungen und Verschleppungen gibt, und wir bleiben zu zweit zurück, verliebt bis über beide Ohren, durch alles auf immer miteinander verbunden, beinahe stumm aus Mangel an englischen Worten. Wenn es eine Matrize der irdischen Liebe gibt, wenn es eine Matrize der irdischen Glückseligkeit gibt, dann hat sie sich an jenem Revolutionsfeiertag auf dem Teppich des elterlichen Wohnzimmers materialisiert. Wir verloren den Kopf. Die Liebe verlangt einfache kitschige Worte, sie braucht keinen Samjatinschen Ornamentalismus, da sie zur kleinbürgerlichen Romanze neigt. Ihre Beschreibung ist eine Parodie auf die Literatur, wenn sie wirklich Liebe ist. Wir waren fortan ein stummes Paar, den englischen Worten misstrauend, in ihrer Wohnung auf dem Prospekt Mira, in absoluter Ungesetzlichkeit unserer Liebe, in einem stummen Märchen, an dessen Peripherie feindliche Mächte heulten. Ihre verlangsamten Bewegungen, wenn sie Tee eingoss, die überirdische Wendung des Kopfes, wenn sie sich auf dem Boulevard nach mir umdrehte, Gorkis autobiografischer Roman in isländischer Sprache in ihren feinen aristokratischen Händen, ihr blaues Sofa, auf dem ich unmenschliche Leidenschaftsrekorde aufstellte, um sie niemals mehr zu wiederholen und, was vielleicht am wichtigsten ist, um niemals mehr jemanden zu beneiden. Und diese Worte »elska minn«, die ich für immer in mir bewahrt habe, und diese ihre entblößten weißen Beine – zum Teufel mit diesem dämonischen Stawrogin, zum Teufel mit den Kriegserinnerungen meines Vaters!
    Ich verschwinde in der Tiefe der Metrostation »Rishskaja«, ich bin zweiundzwanzig Jahre alt, es ist schon spät, ich muss nach Hause, ich betrachte die Gespenster der späten Fahrgäste auf der Rolltreppe – und ich weiß, dass niemals mehr jemand so glücklich sein wird wie ich. Sie erzählt mir, dass es in Island Volkslieder gibt, aber keine Volkstänze. Überall gibt es welche, bloß in Island nicht, so wie es auch keine Familiennamen gibt. Nur wandelnde Vatersnamen. Wir mussten uns nicht in heißen Geysiren bestätigen – uns reichte das Sperma. Sie hat eine Narbe am Finger, auch ich habe eine am

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