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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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wie immer auf der Brücke steht, gegen die Reling. Papa, bitte nicht ertrinken! In unmittelbarer Nähe seines Minensuchbootes ist ein neues, erst kürzlich vom Stapel gelaufenes schönes Schiff getroffen worden – der englische Zerstörer »Somali«. Ein Torpedo ist in den Maschinenraum eingeschlagen.
    Der Zerstörer legt sich auf die Seite, sinkt aber nicht. Zwei andere Zerstörer und als Hilfsschiff Vaters Minensuchboot erhalten den Befehl, das beschädigte Schiff nach Island zu bringen. Die Mannschaft der »Somali« kehrt von ihren Rettungsbooten an Bord zurück. Der restliche Konvoi setzt seinen Weg fort. Einige Tage später, während eines heftigen nächtlichen Sturms, bricht die »Somali« in zwei Hälften auseinander. Sie sinkt rasch mit der gesamten Mannschaft. Die Matrosen werfen riesige grobmaschige Netze aus. Die Ausbeute: fünfzehn Mann (von sechshundert), schwarz vor Kälte, und jede Menge Fisch. Rum in die Kehlen, Einreibungen mit Alkohol, heiße Wärmflaschen. Zwei überleben. Die Zerstörer, von ihrer Aufgabe befreit, fahren mit voller Kraft weiter, um den Konvoi einzuholen. Das Minensuchboot bleibt allein im Ozean zurück.
    *
    Stille. Sonne. Weiße Polarnächte. Endlich günstiges Wetter für die Fahrt. Bisweilen kommt sich Vater, ein erwachsener junger Mann, wie auf einer Urlaubsreise vor. In der himmelblauen Ferne entstehen die Geister der Liebe. Hochzeitsfederbetten aus Wolken. Schade nur, an seiner Seite fehlt – ja, wen würde Vater gern umarmen? Eines Morgens sieht er achtern am Horizont seltsame Rauchsäulen aufsteigen. Gefechtsalarm wird ausgelöst: feindliche Schiffe.
    »Volle Kraft voraus!«, ruft der Seewolf ins Megafon.
    Doch das Minensuchboot kann es an Schnelligkeit nicht mit den drei unbekannten Zerstörern aufnehmen. Einer davon, der vorausfährt, feuert eine Salve aus den Bordgeschützen in die Luft, mit der er das Minensuchboot zum Stoppen auffordert.
    »Da kannst du lange warten, fuck you !«, krächzt der Kapitän, Vater zuzwinkernd. »Beidrehen, Gefechtsbereitschaft herstellen!«, brüllt er ins Megafon.
    Das Minensuchboot leistet Widerstand mit seiner ganzen hinfälligen Bewaffnung. Vater umklammert den Griff der Mauser in seiner Jackentasche. Aber er hat vergessen, wohin er die Patronen getan hat. Er rennt in seine Kajüte, findet sie unter dem Kopfkissen, saust wie der Blitz auf die Brücke zurück. Das technische Unvermögen habe ich geerbt, obwohl ich als Kind mit meiner Zielsicherheit beim Scheibenschießen alle verblüffte. Eine quälende Pause tritt ein. Vater weiß, dass die Deutschen ihn lebend nicht kriegen werden. Geräuschvoll das Wasser durchschneidend, nähern sich die Zerstörer, werden immer größer. Vater wirft den Kopf in den Nacken. Und plötzlich Schreie:
    »Yankees! Yankees!«
    Die amerikanischen Zerstörer kommen ganz nah heran. Die dicht gedrängt stehenden Matrosen aus Oklahoma, Minnesota, Mississippi und Alabama, weiße und schwarze, »unsere« zum Weinen nahen Yankees werfen Säcke mit dem amerikanischen Adler aufs Deck des Minensuchbootes. Konserven, Dosenbier – alles, was Vater und die Schotten so lange entbehrt haben. Am Abend geht es auf dem Minensuchboot hoch her. Alle fühlen sich als Helden, sind betrunken, schreien Vater zu:
    »Stalingrad! Stalingrad!«
    STALIN Ist das nicht etwas verfrüht?
    An diesem Abend bringt Vater der Mannschaft schrecklich verlegen ein anderes, nicht weniger deftiges Wort der russischen Sprache bei.
    *
    Der sowjetische Odysseus betritt zum ersten Mal ausländischen Boden. Er bringt den Globus unter seinen Füßen zum Drehen. Es tut gut, festen Boden zu spüren, ruhig durch die Straßen von Reykjavík zu laufen. In Island gibt es keine Verdunkelung; die bunt gestrichenen Häuser sind abends von elektrischem Licht hell erleuchtet. Wladimir genießt den Anblick der Mädchen, die als die schönsten in Nordeuropa gelten.
    Island hat die Russen immer mit seiner Lage am Rande der Welt angezogen. Nicht zufällig ist Dostojewskis dämonischster Held dort gewesen, der schöne Stawrogin, der im Übrigen nichts über Island erzählt hat, da ein imaginäres Land keiner touristischen Eindrücke bedarf.
    Eine seltsame Fügung, um nicht zu sagen eine provokative Ironie des Schicksals, ist es indessen, dass ich selbst in dem Alter wie mein Vater damals, mit zweiundzwanzig Jahren, in Island war, wenn ich auch, im Gegensatz zu ihm, niemals dorthin gelangt bin. Mein Island wohnte im fünften Stock. Auf dem Prospekt Mira, in der Nähe

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