Der gute Stalin
seinem Wein. Die jungen, zackigen Kellner huschen hin und her, wechseln nach jedem Gang korrekt das Besteck und stellen immer neue, mit dem großen Wappen der Sowjetunion verzierte Teller auf den Tisch. Es wird Pute gereicht. Dem Kellner, der über Stalins Schulter hinweg Preiselbeersoße auf dessen Teller gibt, zittert die Hand. Rot tropft es auf die Uniformjacke des Generalissimus. Die Tischrunde erstarrt. Berija runzelt die Stirn und verlässt kurz den Tisch. Stalin zuckt nicht einmal mit der Wimper. Der Chefkellner stürzt herbei und reibt fieberhaft mit einem nassen Lappen an den bekleckerten Stellen herum. Stalin gebietet ihm mit lässiger Geste Einhalt. Der junge Urheber dieses Vorfalls verschwand und tauchte nicht wieder auf. Am Tisch erneut lebhafte, wenn auch gedämpfte Unterhaltung.
»Das nennt man Selbstbeherrschung«, sagte Vater.
»Hat man den Kellner erschossen?«, fragte ich.
»Ich weiß nicht«, sagte Vater achselzuckend.
Uns verbinden diverse Ähnlichkeiten – das Lächeln, die Nase, der aus Zerstreutheit leicht geöffnete Mund, das ungeduldige Zucken eines Beins, die plötzliche Langsamkeit, das Verschränken der Hände im Nacken und die Intonation – in einem Grade, dass wir gemeinsam eine Zeitmaschine abgeben. Aber selbst wenn ich diese Situation teilweise beherrsche und mich gegen bestimmte Schwächen, die ich von ihm habe, wehre, wird mein Vater dennoch manchmal mit mir verwechselt, die Leute sind entsetzt, wie alt ich geworden sei – es gibt so eine Krankheit des plötzlichen Alterns. Früher sagten alle immer, wie ähnlich ich meinem Vater sähe. Jetzt sagen sie zu ihm, wie ähnlich er mir sei. Das ist mein kleiner sozialer Sieg, der mich gar nicht freut. Ich habe immer mehr Angst, ihm ähnlich zu sehen. Aus dieser Ecke weht der Wind des Alters. Ich habe eine krumme Haltung. Vater hat bis heute Haare auf dem Kopf, keine lichten Stellen, beängstigend sind dagegen seine Gedächtnisausfälle, die er erfolglos als Scherze maskiert. Wenn er spricht, benutzt er immer mehr Interjektionen und Gemeinplätze, macht zunehmend Pausen. Wie er Auto fährt – ich sagte es schon: apokalyptisch. Ich sehe darin meine Zukunft, falls ich eine habe, besonders morgens, wenn ich am Abend zuvor Sekt mit Wodka getrunken habe. Im Übrigen würde ich aber gern wissen, wohin die Reise mit der Zeitmaschine geht.
Lange ging ich Vater mit der Frage auf die Nerven: »Hat Stalin an den Kommunismus geglaubt, oder war er schlicht und einfach ein sowjetischer Imperialist?« Von den beiden diametral entgegengesetzten Meinungen über Stalin, er sei entweder ein Sadist und psychopathischer Mörder (die Meinung der russischen Intelligenzija) oder aber ein sich aufopfernder Inquisitor gewesen, tendiert Vater heute zur letzteren. Die Intelligenzija kann ihm nichts vorschreiben, ob es mir nun passt oder nicht. Die Intelligenzija hasste zum Beispiel Andrej Alexandrowitsch Shdanow, sie hasste ihn im Stillen und aus tiefstem Herzen für die Vernichtung auch nur des Anscheins von Freiheit, für die öffentliche Hinrichtung der Achmatowa und Soschtschenkos, bei uns zu Hause dagegen galt Stalins Chefideologe als Retter. Aus dem belagerten Leningrad erhielt Vater von meiner Großmutter einen Abschiedsbrief: Großvater und sie stünden schon nicht mehr auf, sie hätten keine Kraft mehr. Er schrieb an Shdanow und bat ihn um Hilfe. Ein paar Tage später erschien bei Großmutter ein Militär mit einem Sack Lebensmittel und sogar Wein. Da Vater im Kreml arbeitete, konnte er sich bei Shdanow persönlich bedanken.
»Keine Ursache!«, winkte der bescheiden ab.
Vater erinnert sich noch heute: »Shdanow war ein aktiver, korrekter Mann mit raschem Reaktionsvermögen. Ich war sehr betrübt, als ich von seinem Tod hörte.«
Mehr noch: Shdanow war nach Vaters Worten gegen die Sowjetisierung von Finnland nach Kriegsende, er setzte sich für einen neutralen Nachbarn im Norden ein und erlitt den folgenschweren Infarkt, nachdem er für seinen politischen Liberalismus im Politbüro kritisiert worden war. Die Umstände von Shdanows Tod sind rätselhaft wie alles, was mit dem Märchen der russischen Staatsmacht zusammenhängt. Wir sitzen am Tisch und trinken Tee in dem Haus, das sich in der umbenannten Straße meiner Kindheit befindet.
»Ich glaube nicht«, sagt Vater, »dass Stalin ein politischer Mörder war, der am Foltern Vergnügen hatte. Das kann ich mit seinem Äußeren nicht in Einklang bringen.«
Vater behielt sein ganzes Leben die
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