Der gute Stalin
die erste Wasserscheide zwischen Unsrigen und Nicht-Unsrigen. Die Unsrigen verweigerten sich niemals, nicht einmal auf dem Totenbett. Als der sterbende Gorki, der möglicherweise auf Geheiß des Führers vergiftet worden war, von Stalin, Woroschilow und Molotow aufgesucht wurde, die sich von ihm verabschieden wollten, bekam der Schriftsteller einen solchen Adrenalinstoß, dass er danach noch eine ganze Woche lebte. Der verdoppelte Organismus meiner Eltern hörte auf, die nötige Menge von Adrenalin auszuschütten, sie vergaßen voreilig, was der Karriere nützt, diesen dem Lampenfieber des Schauspielers vor dem Auftritt ähnlichen Zustand: die Angst des kleinen Beamten, von der der Frau des Residenten in Paris, wie Mama öfter bemerkte, die Lippen zitterten und die Knie einknickten, wenn sie die ehemalige Lettin Jegwenija Alexandrowna begrüßte. Meine Eltern wurden nicht nur von den Fernsehabenden ausgeschlossen, sondern auch von den intimen Empfängen, auf denen sich die Botschaftselite versammelte – sie begannen im Rennen um die Macht zurückzufallen.
Irgendwo tief drinnen bekam auch der eheliche Zusammenhalt einen Knacks ab. Mama, die dank des Zusammenlebens mit Vater die Dimensionen menschlicher Persönlichkeit und politischer Ereignisse erkannt hatte, begann wie eine Verräterin, mit jener rein weiblichen Undankbarkeit, unter der erfolgreiche Männer oft leiden, gleichsam aus metaphysischer Rache für ihre Erfolge, Vater dafür zu verachten, dass er ein kleiner Beamter war.
»Was kann man schon von ihm erwarten? Er ist Beamter«, sagte sie später wiederholt zu mir, wobei sie sich durchaus bewusst war, was für eine kränkende Distanzierung dieses tschechowsche Wort für einen richtigen Mann bedeutete. Sie war nie zufrieden mit Vaters geistiger Veranlagung: Undeutlich wie durch einen Nebelschleier schwebte ihr, wenn schon kein Dichter, so doch zumindest ein Geisteswissenschaftler, ein Gelehrter und ein Leser von Romanen vor. Der unterbewusste Individualismus der Impressionisten mit ihrem auf Mutter ausgeübten Einfluss – in ihrem Fall nicht durch Proust ergänzt –, den sie trotz allem nicht zu meistern vermochte, genügte, dass sie sich ein eigenes Bild von ihrem Mann machte – in der konservativen russischen Tradition würde dies zwar nicht direkt regelwidrig, auf jeden Fall aber unbescheiden wirken. Papa mit seinem Individualismus, der auf Kräutern der Karriere angesetzt war, benötigte offenbar größere Bewunderung und mehr Körperkontakt von Seiten seiner Gattin. Sein Schicksal war sparsam mit Zärtlichkeit. Jedenfalls genügte ich meinen Eltern nicht mehr. Schleunigst musste ein zweites Kind angeschafft werden. Indes hätten auch zehn Kinder ihre innere Entzweiung nicht überwunden. Auf dem Grunde ihres Bewusstseins war Mama überzeugt davon, dass das Wetter immer schlecht sein und die Sonne niemals hinter den dunklen Wolken hervorkommen würde. In ihr hatten sich Unzufriedenheit mit dem Verhalten der Welt – abgesehen von den Impressionisten – und die unterbewusste Gottesleugnung des Atheisten angesammelt, der längst davon überzeugt ist, dass es keinen Gott gibt. Was jedoch den Individualismus betrifft, so war ich beiden verwandt.
Am siebten November, zwei Stunden vor Beginn des Galaempfangs, versammelte Jewgenija Alexandrowna uns Botschaftskinder im abgedunkelten großen Saal. Die Tische brachen fast unter all den Köstlichkeiten zusammen. Verschiedene Weine und Säfte standen auch darauf. Wir hörten der feierlichen Rede zu, und dann wurden wir gefragt, wie wir in der Schule lernten.
»Gut …«, antworteten die Botschaftskinder zögernd.
Am Fenster stand unbeweglich ein mondgesichtiges Dienstmädchen in weißer Schürze und lächelte dümmlich: ihr Dima war eines der Kinder, das von der Botschaftergattin getätschelt wurde. Obwohl niemand schlechte Noten zu beichten hatte, wurde uns Kindern nichts angeboten. Schrecklich gehemmt bat ich um etwas zu trinken. Jewgenija Alexandrowna fragte zurück:
»Du möchtest etwas trinken?«
Ich nickte, ganz rot ob meiner Bitte, zugleich jedoch unterbewusst dreist, den kahl rasierten Kindern der Chauffeure und Chiffreure gar nicht ähnlich; mit meinem großen Kopf, innerlich unbändig, spielte ich darauf an, dass man uns wenigstens ein belegtes Brot anbieten könnte. Sie wandte sich mit einer halben Drehung des Kopfes, wobei sie ein weißes Taschentuch aus dem Ärmel zog, an das Dienstmädchen, das sofort einen scheinheiligen Gesichtsausdruck
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