Der gute Stalin
Paris, auf meine Seine, meine Marne, meine Kastanien und Platanen.
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Je weiter ich an diesem Buch schreibe, desto schlechter komme ich mit den verborgenen und offenen Widersprüchen meiner Eltern zurecht. Sie sind wahrhaftig das UFO meines Lebens. Eine Analyse unserer Eltern ist eine Art intellektueller Inzest. Welche Dämonen auch immer meine Seele zerreißen mochten (wie meine Mutter es ausdrückte), ich habe immer Dutzende von Rechtfertigungen dafür gefunden, in Bezug auf meine Eltern keine schmutzige Wäsche zu waschen. Ich kenne meine Eltern schlecht, und damit bin ich ganz zufrieden. Woher soll ich denn wissen, warum sie so schnell der europäischen Versuchung erlegen sind, warum gerade ihnen Europa seinen Stempel aufdrücken konnte.
Neben Essen und Kleidung war es sein Geschmack am Leben, womit Europa meine Eltern nach und nach bezwang. Papa begann Tennis zu spielen und vergaß das Schachspiel. Er kaufte Tennisschläger von Dunlop und Schlesinger, deckte sich mit Markenbällen ein, legte sich weiße Shorts zu und ein weißes Tennishemd mit dem kleinen grünen Krokodil. Ein nicht weniger bedeutender Moment war der Kauf einer Acht-Millimeter-Kamera. Zunächst diente sie rein touristischen Zwecken, passend zur Tauwetterperiode, dann jedoch muss der Moment der Selbsterkenntnis eingetreten sein. Die Kamera forderte automatisch von Vater eine Entscheidung: Was sollte er filmen und wozu?
Die Amateurfilmerei ist ein Kampf mit dem Tod. Meine Eltern bewahren bis heute eine Menge von Schmalfilmspulen auf. Ich habe sie mir lange nicht mehr angesehen (der Projektor ist defekt), aber viele Jahre lang war es so: Nach einem Mittagessen mit Gästen trug Vater die ausrollbare, silbrig schimmernde Leinwand ins Wohnzimmer, legte die Filmspulen in den Apparat ein, und es begann das Zirpen der rituellen Minuten, in denen die kurzen, selbst gedrehten Filme mit Loire-Schlössern, Fontainebleau und anderer französischer Architektur vor grünen Rasenflächen vorgeführt wurden. Russland hat Vater fast nie aufgenommen. Ich sehe mich selbst als linkische Figur in diesen Filmen, mit blassem Gesicht, mit französischer Baskenmütze auf dem Kopf und einem linkischen Lächeln. Im Vergleich zu den beständigen Gestalten der Bekannten meiner Eltern war ich jedes Mal anders, ein nicht festzumachendes Objekt, wie meine Handschrift, die Dutzende von Schattierungen hat, aber wegen des Computers längst bedeutungslos geworden ist. Vater kaufte einen Montagetisch mit einem kleinen Bildschirm; abends war er oft mit Schneiden und Kleben beschäftigt. Die Bilder waren anfangs schwarz-weiß, aus mittlerer und weiterer Entfernung aufgenommen. Fast nie gab es Nahaufnahmen, Vater genierte sich, den Leuten zu nahe zu treten. Ich kann mich nicht erinnern, ihn jemals schreiend, mit dem Fuß aufstampfend, außer sich gesehen zu haben. Einer seiner Vorzüge war zweifellos seine Selbstbeherrschung, die ich in weitaus weniger perfekter Form geerbt habe. Wahrscheinlich war er ein mäßiger Kameramann und Regisseur. In Vater begann sich die Idee der Selbsterkenntnis zu regen, konnte sich vielleicht aber nie ganz durchsetzen. Sein Interesse galt offensichtlich nicht der Kunst, sondern den Objekten als solchen, einer Sammlung des Gesehenen, einem unbewussten Rechenschaftsbericht über das gelebte Leben; und erst ganz zuletzt seiner auserwählten Position. Er filmte keine riskanten Bilder, und später einmal, als er von der kurzsichtigen Galina Fjodorowna, die es ihm offenbar angetan hatte, einen Schmalfilm über eine Reise nach Mali bekam, schnitt er gnadenlos auf seinem Montagetisch den Afrikaner heraus, der mit seinem schwarzen Glied vor der Kamera herumwedelte – zum großen Bedauern der Zuschauer, die sich bei uns zu Hause versammelt hatten. Das Heimkino trennte meine Familie von der Welt der Botschaft, die für sich lebte und nur sich selbst sah.
Die Vorführung der Filme geschah oft mit Musik, und auch hierbei trug Europa den Sieg davon. Im Unterschied zu den kleinen Mitarbeitern der Botschaft, die heimlich Leschtschenko hörten, der nicht mehr ganz, sondern nur noch halb verboten war, mochten meine Eltern keine verwegenen Lieder, sondern hörten lieber französische Chansons. Sie vergötterten Edith Piaf. Sie hörten Brassens. Später kam Aznavour dazu und noch viele andere. Mit Yves Montand und Simone Signoret waren sie, wie bereits gesagt, eng befreundet (die Begegnung mit solchen Menschen war noch eine weitere starke Versuchung Frankreichs, was ich
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