Der gute Stalin
beinahe nie beobachten durfte, denn ich wurde solchen Leuten nicht gezeigt). Meine Eltern haben sich nie für Jazz interessiert, Frank Sinatra sang bei uns zu Hause nicht, dafür aber sorgten französische Chansoniers für gemeinsame häusliche Erlebnisse. Bis heute habe ich das Lied im Ohr:
Marjolenne, tu es si jolie …
Mal vergesse ich den Text, mal fällt er mir wieder ein, fast bis zur letzten Zeile.
*
Die Botschaft lebte auf ländliche Art, ein patriarchalisches Gutsherrenleben. Es fehlten nur noch die Hühner und Hähne. Über den Hof liefen Putzfrauen und Chiffreure, kleine KGB ler und Chauffeure, dazu der ewig gehetzte Verwaltungsleiter. An der Spitze stand, Hände in den Hosentaschen, das Gewicht auf Sowjetart mal auf das eine, mal auf das andere Bein verlagernd, der Herr, Sergej Alexandrowitsch Winogradow, ein zufälliger Diplomat, der vom Bauwesen zur Diplomatie aufgestiegen war. Sein Gesicht mit den buschigen hellen Augenbrauen strahlte Erfolg und Ruhm aus. In Vaters häuslichen Gesprächen mit Freunden – meine Eltern waren in Paris mit zwei Ehepaaren befreundet, die dazugehörigen Männer waren der lachlustige Prawda -Korrespondent in Paris (was ich wusste) und der schöne Lodik, eine kleine Nummer beim KGB (was ich nicht wusste) – war das Wort Botschafter heilig. In meiner Erinnerung an die Tischgespräche meiner Kinderzeit konnte mit ihm gerade noch ein gewisser EnEs konkurrieren; beide Namen wurden nur halblaut ausgesprochen. Aber dieser EnEs erschien mir doch weniger bedeutend als der Botschafter, wenn auch als würdiger Mann. Ich wollte nicht in die Geheimnisse der Erwachsenen eindringen, ich hatte meine eigenen, und erst Jahre später entschlüsselte ich, dass mit EnEs Nikita Sergejewitsch Chruschtschow gemeint war. Die Frau des Botschafters, Jewgenija Alexandrowna, hielt sich noch majestätischer als ihr Mann, sie sprach kurzatmig, den Kopf nach hinten geworfen. Sie sah aus wie eine Zarin, dabei war sie in ihrer Jugend eine lettische Dreherin gewesen. Wenn es dem Botschafter und seiner Frau spätabends langweilig wurde, holten sie meine Eltern vor ihren Fernseher. Der Botschafter aß Nüsse, trank Bier und trat oft in direkten Kontakt zum französischen Nachrichtensprecher.
»Na, Junge, das war aber jetzt faustdick gelogen!«, brummte er, drohte ihm mit dem Finger und runzelte die Brauen. »Wir kennen dich, du amerikanischer Lakai!«
»Er kann dich doch nicht hören!«, wies Jewgenija Alexandrowna ihn zurecht. Der Botschafter wandte sich langsam nach ihr um und schwieg vielsagend. Wie viele Frauen von hochgestellten Leuten genoss sie es, dass er sich allein von ihr etwas sagen ließ. In ihrem neumodischen Citroën DS mitzufahren war unerträglich. Wenn Sergej Alexandrowitsch am Steuer saß, schrie sie ihn an:
»Was musst du diesem französischen Idioten hinterherrasen!«
Sergej Alexandrowitsch schwieg wiederum vielsagend. Meine Eltern wussten nicht, wer letzten Endes am längeren Hebel saß, und murmelten vage zustimmend, unklar, an welche Adresse, aber ihre Bemerkungen wurden sowieso nicht beachtet.
Ihre Verwandlung in eine Europäerin nahm Mama sehr mit. Wegen der ständigen Überreizung erlitt sie immer wieder Anfälle von Schwermut, aus heiterem Himmel bekam sie schlechte Laune oder begann zu weinen, legte sich aufs Bett und lag da mit geschlossenen Augen wie eine Tote. Das Telefon klingelte. In jenen Jahren läutete das Telefon durchdringend und fordernd. Der schwarze und schwere Apparat (der zugleich zerbrechlich war; wenn er auf den Boden fiel, war er hin) stand am wichtigsten Platz im Wohnzimmer, auf dem Kaminsims, er hatte eine schwer drehbare Wählscheibe und eine große glänzende Glocke, die von dem antiken Spiegel über dem Kamin verdoppelt wurde und an den Ersatzreifen auf dem Kofferraum vieler damaliger Autos erinnerte. Das Telefon war der Vorgesetzte; wenn es läutete, stürzte Vater ans Telefon und meldete sich: »Jerofejew!« Mama rutschte mühsam vom Bett herunter.
»Was ist, kommen Sie?«, ertönte Jewgenija Alexandrownas Stimme.
»Wir haben uns schon hingelegt.«
»Na und, dann stehen Sie auf!«
Hätte das Telefon etwas freundlicher, gar einschmeichelnd geklingelt, hätte meine Mutter sich vielleicht untergeordnet, aber so war es doppelte Gewaltanwendung. Sich zu unterwerfen war unter ihrer Würde, zumal sie sich in einem depressiven Zustand befand. Die nächtliche Verweigerung spielte eine große Rolle im Schicksal meines Vaters. Hier verlief wahrscheinlich
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