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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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annahm.
    »Bringen Sie ihm Wasser.«
    Sie brachte mir Leitungswasser. Das Dienstmädchen wurde bald darauf mit einem Skandal hinausgeworfen und nach Moskau zurückgeschickt: Sie hatte Jewgenija Alexandrowna hemmungslos angebrüllt wie ein Tier, war in die Wohnung des Botschafters gestürmt und hatte herumgeschrien, weil der Botschaftsarzt sich nicht bei ihrem schwer kranken Dima blicken ließ.
    »Unsere Menschen haben eben kein natürliches Empfinden für Subordination«, beklagte sich Jewgenija Alexandrowna bei meiner Mutter.
    *
    An jenem Abend verprügelten mich meine Eltern. Die Revolutionsfeierlichkeiten in der Botschaft zeichneten sich aus durch kirchliche Pracht. Das große Tor der Botschaft wurde weit aufgemacht wie die heilige Tür in der orthodoxen Altarwand, und in den Hof hinein rollte ein unglaubliches Automobil nach dem anderen. Der Besuch in der sowjetischen Botschaft galt als schick. Autos mit und ohne Standarten hielten vor dem halbrunden Haupteingang, der Rokoko mit sowjetischem Elektrifizierungsplan verband. Aus den Autos sprangen die Chauffeure und öffneten die hinteren Wagentüren: Franzosen und andere Ausländer stiegen aus, geleckt wie kluge Meerestiere. Das durfte man sich nicht entgehen lassen. Uns, den Botschaftskindern, war es verboten, die Wohnung zu verlassen. Aber in diesem Moment wurden wir von niemandem kontrolliert. Alle hatten anderes zu tun, als auf uns zu achten. Alle waren mit dem Empfang beschäftigt.
    Ich entwischte wie ein Schatten über die Seitentreppe der prachtvollen Stadtvilla, genauer gesagt, ich rutschte das massive Treppengeländer hinunter, öffnete die Hoftür und beobachtete, hinter den großen polierten Autos versteckt, gierig die feierlichen Ereignisse. Im Grunde war dies der Höhepunkt meines kindlichen Voyeurismus. Mein Herumspringen und Versteckspielen, mein unvorsichtiger Drang, mit einer Spielzeugpistole auf die mit Brillanten behängten alten Schachteln zu schießen, alarmierte schließlich die Botschaftswachleute. Sie zogen mir zwar nicht die Ohren lang, aber ich wurde identifiziert und verpetzt. Vielleicht war es sogar Jewgenija Alexandrowna selbst, die meinen Eltern Mitteilung machte.
    Als an jenem Abend meine Eltern nach dem erfolgreich verlaufenen Empfang nach Hause kamen, parfümiert und elektrisiert von der Konversation in bester Gesellschaft (nach Empfängen unterhielten sie sich gewöhnlich noch lange im Schlafzimmer miteinander und tauschten ihre Eindrücke aus), rissen sie geräuschvoll die Wohnungstür auf (gewöhnlich kamen sie auf Zehenspitzen herein, um mich nicht zu wecken). Ich lag bereits im Bett.
    »Vitja!«
    Schweigen.
    »Vitja, schläfst du?«
    Der Ton war gemein, aber ich, der ich nächtliche Gespräche liebte, reagierte unvorsichtigerweise darauf.
    »Ich kann nicht schlafen«, lächelte ich heuchlerisch, denn ich war erst unter die Decke gekrochen, als ich die Stimmen meiner Eltern im Treppenhaus hörte.
    Sie zerrten mich aus dem Bett, stellten mich in Unterhose und Hemd vor sich hin und gerieten in pure Raserei. Sie brüllten und putschten sich gegenseitig auf. Ich hatte meine Eltern nie so wütend gesehen – noch dazu beide gleichzeitig. Normalerweise schimpften sie einzeln mit mir. Aber jetzt verwandelten sie sich in zwei tollwütige Hunde in Smoking und langem Abendkleid.
    »Wo ist der Riemen?«, schrie Mama und schubste mich in ihr Schlafzimmer.
    Papa wollte seinen Gürtel abnehmen, aber zu seiner Abendgarderobe gehörte kein Gürtel für körperliche Züchtigungen, und daher ging er zum Kleiderschrank, um dort zwischen den Krawatten einen Gürtel zu suchen. Ich sah ihn an und traute meinen Augen nicht.
    »Hinlegen!«, kommandierte Mutter.
    »Wohin?«, fragte ich verwundert. »Mach ich nicht!«
    »Warum bist du in den Hof runtergegangen? Was haben wir dir gesagt!«, sprach Vater das Urteil.
    »Wieso, was ist denn?« Ich konnte es noch immer nicht glauben.
    »Ich habe dir gesagt: Untersteh dich!«
    Sie packten mich, aber ich, halb nackt, entwand mich ihnen. Vater schnappte mich – ich riss mich los. Ich flüchtete zurück ins Wohnzimmer, rannte um den Tisch herum, Stühle umwerfend, sie jagten mir nach, sie waren nicht mehr meine Eltern, mit denen man sich immer irgendwie einigen konnte. Sie waren aus der Rolle gefallen, aus den mir vertrauten Gleisen gesprungen und zu Ausführenden eines staatlichen Auftrags, zu gedungenen Henkern geworden. Schließlich bekamen sie mich zu fassen. Mama packte mich schmerzhaft am Ellenbogen und

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