Der gute Stalin
sehen sind, gehören zu den kostbarsten Erinnerungsstücken meiner Eltern. Die Freundschaft mit Montand endete seltsam. Nach den Ungarn-Ereignissen hatte Vater ihn überredet, nach Moskau zu kommen, was er als persönlichen Sieg empfand. Alles Weitere lässt sich verschieden interpretieren. Moskau empfing Montand mit überwältigender Begeisterung. Sein Besuch war für die Moskauer, die, für dumm verkauft, die ungarische Revolution überhaupt nicht begriffen hatten, keineswegs ein Zeichen für einen sowjetischen ideologischen Trick, sondern für poststalinistisches Tauwetter. Objektiv engagierte sich Montand in Moskau für eine Liberalisierung Russlands. Aber Chruschtschow kam mit Gefolge zu seinem Konzert, und das wurde zu einer politischen Demonstration. Montand kehrte nach Frankreich mit dem Gefühl zurück, betrogen worden zu sein. Meine Eltern erzählten mir viele Jahre lang empört, dass er Schwierigkeiten gehabt habe beim Rundfunk und mit Schallplattenaufnahmen, dass man ihn boykottiert habe – auf diese Weise wurde er bestraft. Die Freundschaft mit meinen Eltern versandete nach seiner Rückkehr allmählich.
Simone Signoret schrieb viele Jahre später, schon nach dem Einmarsch in die Tschechoslowakei, ein Buch, in dessen Titel der Name meines Vaters vorkam: Auf Wiedersehen, Wolodja . Vielleicht war er hier gemeint als Symbol für ihren Bruch mit den Kommunisten. Montand wurde zum Sowjetfeind, spielte in dem Film Das Geständnis mit. Während Gorbatschows Perestroika kam er mit diesem Film nach Moskau. Vater fuhr zur Premiere, um den alten Freund zu treffen. Im Unterschied zu Rostropowitsch erkannte Montand ihn unter all den Menschen, und es war wohl klar, warum. Beide waren gealtert, hielten sich aber noch recht gut, obwohl bei beiden die Augen leicht wässrig geworden waren. Russland hatte sich ebenfalls verändert. Montand winkte ihm von weitem zu, umgeben von einer Menge von Leuten, und rief laut: »A bientôt! A bientôt!« Doch er kam nicht auf ihn zu, lud ihn nicht zum Bankett ein, umarmte ihn nicht, küsste ihn nicht. Papa kam irritiert nach Hause. Das Thema Freundschaft mit Yves Montand wurde vorsichtig aus dem Familienrepertoire gestrichen.
*
Wenn ich in Paris bin, besuche ich Notre-Dame, stelle zwei Kerzen »für die Gesundheit« auf, und wie eine dicke Kaufmannsfrau bitte ich Gott, dass meine Eltern lange leben und nicht krank werden mögen. Aufgrund der historischen Umstände sind sie von Dir abgefallen, aber sie sind schon alt, brauchen Verständnis, Zärtlichkeit und göttliche Güte. Ich gehe die Uferstraße entlang, vorbei an den Bücherständen, wo Zeitschriften aus den fünfziger Jahren verkauft werden, deren damals Aufsehen erregende Titelseiten einem heute so harmlos vorkommen, und plötzlich kehrt alles erneut zu mir zurück. Unsere Familie wurde von den Impressionisten moralisch zersetzt (schon Ende der dreißiger Jahre, in Moskau, schwärmte Mama für sie). Nicht umsonst bekämpfte der sowjetische Kunsthistoriker Kemenow sie bis zum Letzten. Er fand, wahrscheinlich zu Recht, dass sie die Idee der objektiven Wahrheit untergraben, den Stoff des Sinns zerstören und den Zufall preisen. Kemenow arbeitete damals in Paris bei der UNESCO , liebte Benois, und mit meinen Eltern spielte er bei Spaziergängen das Städtespiel:
»Kaluga!«
»Alma-Ata!«
»Krasnojarsk!«
»Klysmagrad!«, sagte Kemenow.
Alle lachten, auch ich, aber dann hörten meine Eltern auf, ihn einzuladen; schlau, wie er war, konnte er hinter Mutters heimliche Liebe zu Monet kommen. Bereits lange vor der Entdeckung des frühen Majakowski – meines ersten (und letzten) Idols, der in meinem Zimmer über der Tür hing und äußerlich ein legales, innerlich aber ein höchst subversives Idol darstellte – waren die Impressionisten, sie alle, besonders van Gogh, Gauguin, Modigliani, meine Versuchung. Mein Sturz in den Abgrund. Ohne sie wäre ich vielleicht eher in Richtung Institut für Internationale Beziehungen gegangen, hätte davon geträumt, Außenminister zu werden – und vielleicht wäre ich es heute sogar. Aber diese Maler haben mich aus der Bahn geworfen, mir das Gehirn durchgepustet und den Weg in den Abgrund geebnet. Dann folgten rasch hintereinander die Kubisten, Abstraktionisten, Surrealisten. Den Zugang zu den Impressionisten eröffnete mir sehr früh meine Mutter. Man brauchte sie nicht zu lesen und sich mühevoll anzueignen, sie fesselten einen vom ersten Blick an. Sie reimten sich auf meine Mohnblumen bei
Weitere Kostenlose Bücher