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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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soweit ich weiß, ausgeraubt. Aber vielleicht auch nicht. Alles ging durcheinander und war irgendwie bedeutungslos.
    *
    »Weißt du, dass du ein Brüderchen bekommen hast?«
    Ich rannte über eine große Wiese mit einer wichtigen Aufgabe, gespannt wie eine Sprungfeder, als mich Kirilla Wassiljewna an der Hand festhielt. Sie brachte mich aus der Fassung. Ich hatte nicht nur keine Ahnung, dass mein Bruder geboren worden war, ich hatte nicht einmal mitbekommen, dass meine Mutter schwanger war. Sie hatte es so geschickt verborgen, dass ich keinen Verdacht schöpfte. In meiner Familie war Körperlichkeit nicht verboten. Sie existierte überhaupt nicht. Eine nackte Mama gab es nicht. Einen nackten Papa gab es nicht. Sie waren immer irgendwie angezogen. Es war unmöglich, sie sich nackt vorzustellen. Im Schwimmbad zog sich Vater wie ein Franzose in einer eigenen Kabine um. Einmal, als wir kein warmes Wasser hatten, bat Mutter mich, ihr beim Haarewaschen zu helfen und ihr Wasser aus einem Topf über den Kopf zu gießen (damals erfüllten manche Dinge nicht mehr ihre eigentliche Aufgabe). Ich betrat in Panik das Badezimmer, als ob ich erneut ins Mausoleum ginge, ich hatte Angst, sie nackt zu sehen, aber sie hatte Büstenhalter und Unterrock an und ein Handtuch über den Schultern – das war der Gipfel von Mamas Nacktheit. Alle Absonderungen, Ausscheidungen, Unreinlichkeiten des Organismus existierten ebenfalls nicht, oder sie existierten in so kleinen Proportionen (wie etwa die aus dem Kamm gezupften und ins Klobecken geworfenen Haare), dass sie keine Bedeutung hatten. Blut war die einzige Körperflüssigkeit, die in unserer Familie Beachtung fand. Meine Eltern führten kein einziges Mal mit mir ein Gespräch darüber, woher die Kinder kommen.
    Die sowjetische Kolonie unternahm eine Erholungsfahrt nach Mante. Man kam in Bussen oder mit dem Auto. Auf dem Rasen in Mante verbrachten wir die Maifeiertage. Im Sommer gab man die Kinder ins Ferienlager. Hier habe ich erstmals zu lesen begonnen. Bis dahin konnte ich Lesen nicht ausstehen: Ich las schlecht, stockend und quälend langsam Buchstaben und Silben aneinander reihend. Mama war entsetzt. Und nun hatte es mich gepackt. Wenn alle Mittagsschlaf hielten, las ich Jules Verne. Einen Band nach dem andern. Die blaue Werkausgabe. Suchtlektüre im Untergrund. Während der Mittagsruhe war Literatur verboten. Aufseher kamen in Wolfsmasken. Ich versteckte Jules Verne unter dem Kopfkissen.
    Kirilla Wassiljewna sah mich gespannt an. Ich sagte:
    »Ich weiß.«
    Keine Ahnung, warum ich das sagte. Vielleicht, weil ich in sie verliebt war. Kirilla Wassiljewna sah mich erstaunt an. Später sah mich Mama, der Kirilla Wassiljewna sagte, dass ich Bescheid wisse, noch viel erstaunter an. Aber sie fragte nicht, woher ich es wisse. Vor Verlegenheit rannte ich weg in den verwilderten Kirschbaumgarten.
    *
    Dort trieb sich ein echter Franzose herum, ein großer Junge mit stumpfsinnigem Gesicht. Ich möchte das französische Volk nicht beleidigen, aber meiner Meinung nach war der Junge nicht schwachsinnig. Wir fanden eine gemeinsame Sprache, da wir in etwa dieselbe Anzahl französischer Wörter kannten.
    »Coccinelle?«
    »Coccinelle!«
    Aber das waren keine »coccinelles«, sondern eine Mischung aus Ameisen und Marienkäfern, kleine Feuerwehren mit flachen gefleckten Flügelchen, die im ganzen Wäldchen herumkrabbelten. Der Schwachsinnige und ich sammelten sie in leeren Streichholzschachteln. Er wollte mir etwas zeigen. Er zog die ganze Zeit seine Hose hoch. Wir machten ein Lagerfeuer. Ich fand es schrecklich, dass sie alle da in den Streichholzschachteln verbrannten, aber ich blieb mit ungerührtem Gesicht sitzen. Über den Kirschbaumgarten gingen im Ferienlager Legenden um. Uns wurde verboten, dorthin zu gehen. Es hieß, dort gebe es Schlangen. Der Schwachsinnige war ungeschickt und hatte Hände wie ein Gorilla – er gefiel mir. Wir freundeten uns an. Auf einem Baum sitzend, pflückten wir gemeinsam die roten und gelben Kirschen. Aber manchmal heulte er. Blieb plötzlich mitten im Garten stehen und heulte. Einmal formte er die linke Hand zu einem Röhrchen und steckte den rechten Zeigefinger in das Loch. Ich verstand, was er meinte. Hierher kämen viele Leute, um sich damit zu befassen. Er könne mir die Stellen zeigen. Ich tat so, als ob mich das nicht sonderlich interessiere. Ich war stolz, dass mein Freund Franzose war.
    Er hatte gutmütig beschlossen, mir mit seinen Gorillahänden das Rauchen

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