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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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schleifte mich zurück. Ich klammerte mich an den Türpfosten, sie rissen mich weg und schleppten mich ins Schlafzimmer. Ohren, Arme, Gesicht brannten. Sie warfen mich bäuchlings, die Arme ausgebreitet, auf ihr Doppelbett, und Mama zerrte grob am Gummiband meiner Unterhose herum, um sie mir herunterzuziehen. Das war eine so himmelschreiende Verletzung aller unserer Familiengrundsätze, dass ich vor Entsetzen ganz still wurde. Sie vergriffen sich an meinem mageren Körper. Ich weiß nicht, ob sie in ihrer Kindheit verprügelt worden sind oder nicht, aber die fundamentalen Regeln der körperlichen Züchtigung mussten sie in ihrem historischen Gedächtnis haben, obwohl sie sich bei ihrer praktischen Anwendung ungeschickt und plump anstellten: Ich riss mich los, rutschte vom Bett herunter, sie fingen mich wieder ein, drückten mich aufs Bett. Ich bekam keine Luft mehr. Der Gürtel schlug auf meinen nackten Rücken.
    »Schlag tiefer«, ertönte Mutters Stimme.
    Der Gürtel traf den nackten Po – ich heulte auf, Tränen schossen mir aus den Augen. Mein Gebrüll war in der ganzen Wohnung zu hören. Ich riss mich los, ich war empört: Der Anlass erschien mir letzten Endes nicht ernst genug – ich hatte nichts Schlimmes getan. Vielleicht hatten sie Angst, den Botschafter aufzuwecken, oder die Bestrafungsaktion war einfach kurz wie der erste Geschlechtsakt von Halbwüchsigen, jedenfalls ließen sie mich schnell wieder in Ruhe. Ich brüllte nicht mehr, ich heulte in meine Decke. Sie roch nach OMO , worin ich nach Öffnen der Verpackung immer bunte Glasmurmeln fand – der Traum unserer ganzen Botschaftsschule.
    »Schlaf jetzt!«
    Ich lag auf meinem Sofa mit den verknüllten Laken, mein Po war geschwollen, niemand kam zu mir, um sich zu entschuldigen. Verräterisch still legten sie sich ins Bett und löschten im Schlafzimmer das Licht – ich zitterte vor Entrüstung über ihr Verhalten. Ich wurde böse und verfluchte ihre elenden Feiertage.
    Meine Eltern hatten mir eine meiner wichtigsten Vergnügungen verdorben. Ich war tief, wenn auch nicht für lange von ihnen enttäuscht. Es war das einzige Mal in meinem Leben, dass ich verprügelt wurde. Aber sie spalteten meine kindliche Welt in zwei Hälften. Fortan begann ich zu registrieren, was ich meinen Eltern vorzuwerfen hatte. Ich begann in zwei parallelen Welten mit ihnen zusammenzuleben, so wie gewöhnlich Mann und Frau miteinander leben: Für Friedenszeiten gibt es die eine Geschichte ihres Verhältnisses, im Kriegszustand erinnert man sich an eine andere Liste von Ereignissen, die von Streit zu Streit länger wird. In der Nacht der Züchtigung erinnerte ich mich an Dinge, die viele Jahre später geschehen würden. Ich erinnerte mich daran, wie mein Papa die Beherrschung verliert, in unsere Moskauer Küche gestürmt kommt und Klawa und Mama anbrüllt, sie sollen sofort damit aufhören, das Brett auf den Fußboden zu legen, wenn sie Fleisch hacken – unter uns wohnt für eine gewisse Zeit ebenjener Winogradow, vor dem Papa eine Heidenangst hat. Ich erinnerte mich daran, wie in derselben Moskauer Wohnung Mama mit übelster Laune in meinem Zimmer saugt, da wir keine Putzfrau mehr haben, und ich sehe, dass der Schlauch vom Staubsauger abgegangen ist, der Staubsauger heult, aber alle ihre Bewegungen sind sinnlos wie in einem Chaplin-Film. Ich beginne zu lachen, sie versteht überhaupt keinen Spaß mehr, geht plötzlich hoch und schlägt mir mit aller Kraft ins Gesicht.
    Auch Jewgenija Alexandrowna war nach dem Empfang vollkommen überreizt und schrie einen der Kellner an:
    »Wie konnten Sie es wagen, Duclos nach dem Essen eine Zigarre anzubieten? Sind Sie verrückt geworden? Er ist doch Kommunist!«
    Die ehemalige Dreherin war auch noch Malerin. Sie malte im Garten und auf der Datscha des Botschafters bei Paris. Vater lobte vorsichtig ihre Landschaften und Stillleben.
    »Diese Wolke da bei Ihnen, sie wirkt richtig lebendig.«
    Auf das Kompliment hin wandte sich Jewgenija Alexandrowna geschmeichelt und herablassend um. Viele Jahre später war ich mit Wiesława in Jewgenija Alexandrownas neuer Wohnung in der Alexej-Tolstoi-Straße, wo die sowjetische Elite wohnte. Kurzatmig führte sie uns vor ihren Bildern herum.
    »Das bin ich«, sagte sie, indem sie auf verschiedene Bilder zeigte, »das bin ich auch, und das ist Picasso, das ist Chagall, das – Léger, und hier, das ist auch von mir.«
    Es heißt, dass die Franzosen sie mochten. Die Winogradows starben, ihre Wohnung wurde,

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