Der gute Stalin
beizubringen. Er zog ein zerdrücktes blaues Päckchen mit filterlosen Zigaretten aus der Hosentasche. Ich hatte zum ersten Mal eine Zigarette zwischen den Zähnen, die linke Hand in der Hosentasche meiner Shorts, aber ich konnte mich nicht durchringen, sie anzuzünden. Tabakkrümel gerieten mir in den Mund, brannten auf der Zunge, die Lippen klebten am Zigarettenpapier fest, ich bekam sie kaum auseinander. Ich fürchtete, dass das Rauchen auch nur einer einzigen Zigarette sich verheerend auf meine Gesundheit auswirken würde. In meiner Fantasie malte ich mir ungeheuerliche Bilder aus. Meine Ängstlichkeit wich angesichts einer Flasche Bier. Er hob die Flasche:
»Tu veux?«
»Je veux!«
Wir tranken gleich aus der Flasche. Ich erschrak erneut: Und wenn sich der Schwachsinn nun durch Spucke überträgt? Ich stellte mir vor, wie ich ins Lager zurückkomme – als plumper Schwachsinniger – mit Zigarette zwischen den Zähnen – wie ich Kira Wassiljewna einen Schrecken einjage – wie sie aufschreit – und wie ich ihr mit meinem unmenschlichen Geheul antworte – alle Kinder kommen angerannt – aus Vitja Jerofejew ist ein Teufel geworden – ich mache mich an Kirilla Wassiljewna heran und will sie auf den Mund küssen – vielleicht ist er ja ein Teufel? – nicht zufällig rutscht ihm immer die Hose runter – nicht zufällig ist es verboten, in den Kirschbaumgarten zu gehen – nicht zufällig haben wir unschuldige Kinder in Streichholzschachteln verbrannt – »coccinelles« – meine Eltern werden angerufen und kommen angebraust, ich erkenne sie überhaupt nicht wieder – Vitja! Vitjuscha! – ihr habt mich zu wenig geliebt – aus irgendeinem Grund habt ihr einen Bruder in die Welt gesetzt – gebt euch doch mit ihm ab – einen Kinderwagen haben sie gekauft – ja, ich bin ein Teufel – sie haben mich vergessen – ich vergesse mein Russisch, stehe da, muhe französisch – Schweigen – glaubst du an Gott? – aus mir bricht es heraus:
»Ich möchte, dass er auch an mich glaubt.«
»Warum sollte er denn gerade an dich glauben?«
»Wieso nicht?«
»Guck dich doch an.«
»Und?«
»Hast du die Waldfeuerwehr verbrannt?«
»Und?«
»Eben.«
»Gott ist kein Oberst«, wandte ich ein. »Er liebt die Abwechslung.«
Ich fühlte, wie ich schwankte, wie der Kirschbaumgarten verschwamm. Ich blinzelte – der Schwachsinnige lachte. Durch den Schwachsinnigen verdarb mich Frankreich. Er hatte möglicherweise überhaupt keinen Namen; ich hatte für ihn ebenfalls keinen. Wir kamen ohne Namen aus. Dies erlaubte uns, Dinge zu tun, die Leute mit Namen nicht tun durften. Wir kletterten dann auf den höchsten Kirschbaum, um oben, klebrig vom süßen Harz, den Liebespaaren aufzulauern. Wir saßen da wie zwei große Vögel: er in seiner rutschenden Hose, Spucke auf den Lippen, ich in Shorts, mit blutig geschlagenen Knien. Niemand kam. Ein anderes Mal bemerkten wir ein Pärchen, das durch den Garten lief und sich versteckte. Das Herz begann schrecklich zu klopfen. Sie setzten sich ins hohe Gras – und verschwanden für immer aus unserem Blickfeld.
*
Im Schulspeisesaal war der Kapitalismus ausgebrochen. Wir malten mit Buntstiften Geldscheine. Die gelben waren die wertvollsten – 10000 Franc. Damit konnte man bei den Tischnachbarn Bananen kaufen oder einen Fruchtjoghurt. Die Gefräßigen kauften sich Frikadellen. Die Erzieher drehten den Kindern die Hosentaschen um. Ich wurde entlarvt. Es stellte sich heraus, dass ich es war, der sich ausgedacht hatte, Geldscheine in die Hefte mit den großen französischen Kästchen zu malen. Die Erzieher kamen zu dem Schluss: Vitja Jerofejew ist ein Falschmünzer.
Das Malen von Geldscheinen war vermutlich der erste ideologische Skandal meines Lebens. Wäre ich der Sohn eines Botschaftschauffeurs gewesen, hätte man mich gehörig bestraft. Doch ich besaß einen Schutzbrief – mit einem Botschaftsrat wollte man sich nicht anlegen. Vorsichtig beschwerte man sich bei Mama. Sie erteilte mir einen Rüffel, aber ich weigerte mich zu verstehen, was am Malen von Geldscheinen schlimm sei. Das war ein Spiel, dem Leben im Ausland entlehnt; in Russland hätte ich wohl kaum angefangen, Geld zu malen. Ich verstand, dass die sonntägliche 100 -Franc-Münze, die mir meine Eltern gaben, ein Geschäft war. Formal bekam ich die Münze für gute Noten und gutes Benehmen, aber es wurde noch ein anderer Zweck verfolgt: Die 100 Franc waren ein Blitzableiter. Eigenes Geld schränkte meine
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