Der gute Stalin
Konsumanforderungen ein, die andernfalls grenzenlos gewesen wären. Das Malen von großen Geldscheinen war der Vektor meines Traums. Außerdem vertuschte Kirilla Wassiljewna den Skandal aus persönlichen Erwägungen.
Samstags war Badetag. Alle liefen seit dem frühen Morgen aufgekratzt herum. Statt Mittagsruhe zu halten, wurden die Kinder nach dem Essen gewaschen, was bis zum Abendessen dauerte. Im Badezimmer standen mehrere Wannen, so ähnlich wie in der Banja. Die Kinder wurden getrennt gewaschen, erst die Mädchen, dann die Jungen. Ich geriet bei der Waschaktion Kirilla Wassiljewna in die Hände. Das war bereits gegen Abend. Kirilla Wassiljewna war beim Waschen der Kinder mächtig ins Schwitzen gekommen. Die Hände waren rot, von den Haarspitzen tropfte es. Sie wischte sich auf russische Art mit dem Unterarm übers Gesicht. Papa hegte große Sympathie für Kirilla Wassiljewna. Er hatte sie gefilmt. Kirilla Wassiljewna sitzt in Mante im Gras und betrachtet interessiert etwas. Plötzlich beginnt sie heftig zu applaudieren, sie schlägt sich fast die Hände wund. Dann hört sie auf, rupft etwas Gras aus. Sitzt da und kaut an einem Halm. Papa zeigte den Film ein paarmal, denn er hielt ihn für sehr gelungen. Das war bereits kein Schwarz-Weiß-Film mehr, sondern ein Buntfilm, einem Traum ähnlich. Eines Tages kam Papa verstimmt nach Hause. Man hatte ihm die Filmkamera aus dem Auto gestohlen. Es war eine quadratische tschechische Kamera, die man wie eine Uhr mechanisch aufziehen musste. Mir gab man sie nicht in die Hand. Meine Eltern waren der Meinung, dass die französische Geheimpolizei sie gestohlen habe, mir aber sagten sie, es seien einfach Diebe gewesen. War mein Papa ein Spion?
*
Man läuft an der Oberfläche des Textes, malt wie auf Sperrholz, und plötzlich bricht man ein, und in der Tiefe sieht man seine eigenen Augen.
»Du hast eine Haut, zart wie bei einem Mädchen.«
Das sagte Kirilla Wassiljewna, als sie mich in der Wanne wusch. Es schüttelte mich vor Verlegenheit. Am ersten September kaufte man mir einen Blumenstrauß und schickte mich wieder in die Schule. Die Schule war wie ein Spiel – dort zu lernen, empfand ich als leicht und angenehm. In den Pausen rannten wir auf den Hof hinaus. Die Wege waren mit Kies bestreut. Wir bewarfen uns mit Steinchen. Ein Junge namens Orlow, mit einem geraden schwarzen Pony, schlug mir einen bleibenden Zahn aus, womit er sich einen Platz in der Literaturgeschichte sicherte. Ich ging auf ihn zu, vermutlich mit entschlossenem Gesichtsausdruck, doch ich schlug ihn nicht: In dieser Schule war es nicht üblich, sich zu prügeln.
Im Mai fuhren wir über Bordeaux, Biarritz, Lourdes (wo die Krücken von geheilten Krüppeln vom Himmel herabhingen) und Toulouse nach Cannes zum Filmfestival. Meine Eltern wohnten im Hotel »Carlton« mit Blick aufs Meer, mich quartierten sie getrennt ein, in einem winzigen Zimmer unterm Dach. Ich hauste dort wie eine Taube. Auf dem Filmfestival von Cannes begriff ich, was vollkommene Einsamkeit ist. Meine Eltern gingen abends aus, nach Parfüm duftend. Mama – im schwarzen Kleid mit einem großen weißen Auflegekragen – kam mir völlig fremd vor. Schon seit meiner frühen Kindheit erdachte ich mir meine Eltern von A bis Z, ich befahl ihnen, unveränderlich zu sein, und sie gehorchten mir: Sie entsprachen ihrem Bild, wurden niemals alt, aber als sie sich plötzlich aus irgendeinem Grund veränderten wie in Cannes, wurde mir ganz seltsam zu Mute.
»Aber was denn, mein Kleiner, im Hotel brauchst du doch keine Angst zu haben, es wird dich schon niemand stehlen«, redete Mama mit fremder, zärtlicher und falscher Stimme auf mich ein. Sie hatte es offenkundig eilig, mich loszuwerden, und mir war es peinlich für sie. Denn ich war ja krank. Meine Hände waren verbunden. Auf dem Weg nach Cannes hatte ich an der Côte d’Azur (ich war zum Pinkeln ausgestiegen) den ersten Kaktus meines Lebens erblickt. Die Dinge ließen mit ihren Namen immer mein Bewusstsein hinter sich. Der Kaktus war die Fortsetzung meiner Flucht aus dem Norden. Nachdem ich diese Flucht in Paris begonnen hatte, konnte ich sie nicht mehr stoppen. Ich vergaß auf der Stelle, dass ich zum Pinkeln aus dem Auto gestiegen war, stürzte auf den Kaktus zu, griff mit beiden Händen danach, um ihn mit der Wurzel auszureißen und als Trophäe aus dem Süden mitzunehmen. Die Strafe folgte auf dem Fuße.
Mama gab mir einen Gute-Nacht-Kuss und entschwebte zum Empfang der großen Stars. Ich
Weitere Kostenlose Bücher