Der gute Stalin
Technologien lässt Russland keine Chance, sich in die hinterste Ecke zu verziehen. Es hat keine Wahl. Es ist dazu verurteilt, entweder ein Teil der zivilisierten Welt zu sein oder überhaupt nicht zu sein. Die liberalen Ressourcen in Russland sind noch zu klein, historisch nicht entwickelt und nicht erprobt. Die ihren Schrubber schwenkende Putzfrau ist der potenzielle Wähler. Nach dem Chaos der neunziger Jahre bekommt die oberste russische Staatsmacht ein weiteres Mal eine Ahnung von der Schwäche der liberalen Ressourcen westlichen Typs. Das heutige Russland ähnelt einer Kuh am Strick, die von den Liberalen auf den Markt gezerrt wird, sich jedoch sträubt, da sie glaubt, dass man sie dort entehren oder vielleicht sogar fressen wird.
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Wahrscheinlich bin ich dafür geschaffen, Hollywood-Drehbücher und Seifenopern zu schreiben. Jedenfalls war die kindliche Periode meines Schöpfertums – ein Haus des Schöpfertums! – der Kreativität? – der Degenerativität! – die kindliche Periode meines Talents – Mist – passt alles nicht – alle Begriffe der Literaturtheorie sind bankrott, klar ist jedenfalls, dass es mit ebendiesen Genres zu tun hatte. Ich schließe nicht aus, dass das Genre meiner Kindheit, das Anfängergestammel der Fantasie – dass dies die beste Gewähr ist für Erfolg im späteren Leben: Was braucht das Publikum sonst noch? Kurzum, ich begann mit Actionfilmen, Verfolgungsjagden, Schießereien, Werwölfen, Hexen und Leichenbergen.
Auf dem Rückweg von Cannes nach Paris stellte ich eine seltsame Spaltung bei mir fest. Wenn ich aus dem Wagenfenster die Platanen betrachtete, die zu beiden Seiten der Nationalstraße vorüberflimmerten, ihre Wipfel so ineinander verflochten, dass sie die Straße in einen hohen grünen Tunnel verwandelten – Autobahnen gab es damals noch nicht –, wenn ich mir die Tankstellenschilder von »Total« und »Shell« (wir tankten mit Gutscheinen für Diplomaten) ansah oder die Straßen in den Städtchen der Provence, konnte ich plötzlich in eine andere Welt eintauchen. In jener Welt lebten Menschen, die echten Menschen ähnlich waren, aber sie hatten andere Beweggründe für ihr Tun. Mein Bewusstsein konnte an irgendeinem Auto mit Reservereifen auf dem Kofferraum hängen bleiben, und ein zufälliges Wort von Vater oder das Rascheln der Straßenkarte mit dem Männchen aus Autoreifen darauf in Mamas Händen genügte, um mich in ein hoch empfindliches Gerät zu verwandeln, durch das Stromstöße verschwommener Geschichten liefen.
Die Geschichten waren ineinander verwoben und erzeugten neue Geschichten von Verschwörungen, stockten, weil sie keine Fortsetzung finden konnten, gerieten in Sackgassen, drehten um und liefen weiter, als wäre nichts gewesen. In diesen Geschichten hatte Papa eine echte Pistole in der Tasche, realer als jeder Realismus, und ich erzählte meinen Klassenkameraden, einschließlich Orlow, der mir den Zahn ausgeschlagen hatte, dass Papa eine scharfe Waffe besitze. Zu meiner Verwunderung entdeckte ich eines Tages, als Papa auf der Arbeit war und ich seine Schreibtischschublade öffnete, dass die Waffe sich materialisiert hatte: eine kleine schwere Pistole, eine Gaspistole allerdings. In diesen Geschichten wurden wir von Polizisten gejagt, die als Bauern und Fahrradfahrer verkleidet waren. Aus den Wipfeln der Platanen wurden wir von Scharfschützen beschossen. Wir hatten die Aufgabe, Kirilla Wassiljewna im zerrissenen Kleid, von Kopf bis Fuß verdreckt, aus der Gefangenschaft zu befreien. Ein anderes Mal transportierten wir säckeweise Geld. Vielleicht war das gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt: Winogradow und Vater versorgten die französische kommunistische Partei heimlich mit Schwarzgeld. Außerdem durften sich unsere Botschaftsangehörigen in der Regel nicht frei im Land bewegen, man benötigte eine Genehmigung vom französischen Außenministerium, Strecke und Datum wurden genau festgelegt (die französische Antwort darauf, dass Ausländer in der UdSSR nicht frei reisen durften); ich wusste damals nichts davon, aber mir schien, dass Frankreich für uns ein Land mit sieben Siegeln sei.
Wir bogen auf eine Seitenstraße ab, um irgendwo Mittag zu essen. Ich blickte mich aufmerksam um. Wo war ein sicherer Ort? Keine leichte Aufgabe: Überall Privatbesitz, manchmal wurden wir verjagt, und die sowjetischen Seelen meiner Eltern kochten vor Empörung. Die Wälder und Felder bevölkerte ich mit Räubern, Klassenkameraden, Mädchen aus den
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