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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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lag da und dachte darüber nach, dass die Eltern sich scheiden lassen würden. Sie hatten sich auf dem Weg hierher heftig gestritten. Mama hatte zu Papa gesagt, er habe die falsche Straße genommen, die Krücken von Lourdes hatten ihnen vorübergehend die Streitlust genommen, wir waren alle bestürzt über die Krüppel, aber dann fingen sie wieder an zu streiten. Erst spät schlief ich langsam ein – bereits in einer zerstörten, auseinander brechenden Familie –, als das Treppenhaus des Hotels sich mit dem Lärm gut gelaunter Menschen füllte und die Lifttüren klappten. Nur morgens war es in Cannes nicht langweilig. Während des Frühstücks kamen Leute an unseren Tisch, die Russisch sprachen. Sie fragten, warum meine Hände verbunden seien, und lachten samtweich über meine Antwort. Die schönen Frauen ähnelten Pferden. Bei allen bebten die Nasenflügel. Wenn sie sich von unserem Tisch entfernten, schimpfte Mama:
    »Schau dir das an: Sie hat den Träger mit einer Sicherheitsnadel am Kleid festgemacht!«
    Papa kaute schweigend sein Croissant.
    »Sag ihnen das! Jedenfalls hätten sie besser die Sachen anbehalten, in denen sie aus Moskau gekommen sind. Das wäre zumindest ungewöhnlich. Billige Blusen bei ›Tati‹ zu kaufen! Hast du die Afrikanerinnen gesehen? Hundertmal besser! Eine Schande!«
    Papa trank schweigend seinen Tee aus. Er kritisierte Frauen praktisch nie, schon gar nicht solche, die Pferden ähnelten. Bei Mama begann sich ein Gefühl für französische Maßstäbe zu entwickeln. Sie war furchtbar empört, als die Botschaftsputzfrau in meiner Anwesenheit zu ihr sagte:
    »Die Franzosen sind sehr schmutzige Leute. Wenn sie Staub saugen, legen sie die Schuhe aufs Bett.«
    »Unsinn!«, entfuhr es Mama.
    Ich fühlte, wie die Putzfrau sie ansah. Im Grunde war es dasselbe, als wenn die Putzfrau gesagt hätte, dass die Juden habgierig seien, und Mama sich beeilt hätte, dem zu widersprechen.
    *
    Was soll ich mit dieser Putzfrau anfangen? Wodurch ist sie besser als die russische Staatsmacht? Welche historische Angst hat sie auf den Gedanken gebracht, dass die Franzosen »sehr schmutzige Leute« seien?
    Die russische Staatsmacht ist durchschaubar. Sie ist dafür geschaffen, Dinge zu tun, die den Widerwillen des Westens erregen. Die Hetzkampagne gegen Pasternak, Chruschtschows Schuhaktion auf der UNO -Vollversammlung oder der Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei – überall sehe ich gemeinsame Züge der Abschreckung. Die raffinierte Gemeinheit solcher Handlungen besteht in der groben Verhöhnung der menschlichen Werte, auf denen die Zivilisation basiert. In meiner Kindheit sagte man: Das ist, wie in eine Pfütze zu furzen. Ich bin beeindruckt von der Fähigkeit des russischen Staates, seinen Ruf zu ruinieren.
    Aber ich verstehe die wachsende Gereiztheit der Staatsmacht, und in gewisser Weise empfinde ich sogar Mitgefühl. Es gibt bei uns keine elementare Ordnung, keinen Respekt vor dem Gesetz. Die russische Gesetzgebung war stets dermaßen antimenschlich, dass ihre Umgehung als Heldenmut und nicht als Verbrechen galt. Die Staatsmacht will nicht zurück zum Kommunismus, stützt sich aber auf ein Grundmodell der russischen Staatlichkeit, die nur eine einzige Machtvertikale akzeptiert. Die ewige Angst, dass anderenfalls das riesige und sehr lange Land auseinander bricht wie ein knuspriges französisches Baguette – das ist der Albtraum der russischen Regenten. Russland gleitet automatisch in den Autoritarismus ab, egal, welches ideologische System gerade herrscht. Geld war in Russland niemals ein positiver Wert, schon gar nicht viel Geld, und dies auch noch in privater Hand. In diesem Fall greift der Regent im Kampf mit der Fliehkraft zu Machtstrukturen wie der Opritschnina (unter Iwan dem Schrecklichen) oder der Geheimpolizei.
    Eine Staatsmacht, die ihre Niederlage fürchtet, bewaffnet sich mit der allgemeinen Angst vor ihr als einzigem haltbarem Zement. Angst blockiert, allerdings nicht nur die russische Unordnung, sondern auch jede Produktivität. Russland möchte im zivilisierten Raum fliegen und beschneidet sich die Flügel in der Annahme, dass es sich lediglich die Raubvogelkrallen beschneide. Das Schema ist so simpel, dass man daran verzweifeln könnte.
    Der Ausweg aus dieser Situation wäre eine weitere Stufe der Scham über unsere Schweinereien, Reue und das Versprechen, nicht in Lüge zu leben. Aber wann wird das sein? Das irrsinnige Tempo in der Entwicklung der westlichen

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