Der gute Stalin
französischen Kinderbüchern, Bekannten meiner Eltern, Verkäufern vom Briefmarkenmarkt. Orlow wurde die Rolle des Verräters nicht los. Auf Schleichwegen gelangten wir in die Alpen. Auf der Karte verwandelte sich die Straße in eine Darmverschlingung.
PAPA Bald kommt der Pass.
MAMA Was für eine Luft! Mach das Fenster zu. Es zieht.
In den Kurven kämpfte ich gegen den Brechreiz. Das Ziel war die Grenze. Die Finger der rechten Hand zur Pistole geformt, schoss ich heimlich auf die entgegenkommenden Autos und sah, wenn ich mich umdrehte, wie sie in den Straßengraben flogen und explodierten. Manchmal gelang es mir, ein Passagierflugzeug abzuschießen. Jede Person in Uniform musste beseitigt werden. Ich stand nicht auf der Seite des französischen Gesetzes. Beim Schießen gab ich ein Geräusch von mir, so etwas wie »puff!«, und manchmal wandte sich Mama zu mir um.
MAMA Auf wen schießt du?
Mama gehörte nicht zu der anderen Welt und störte in diesem Fall bloß.
»Auf niemanden«, antwortete ich immer.
Sie glaubte mir nicht und bat mich, mit der Schießerei aufzuhören. Schlimmer noch war, wenn sie sich über mich lustig machte. Das war unerträglich und verdarb mir meine Geschichten sehr. Ich würde sie nicht Kriminalgeschichten nennen. Sie hatten ein Krimi-Sujet, aber die Geschichte selbst verlief sich in der Unendlichkeit. Ich arbeitete als Papas Leibwächter, und ich schützte ihn mit der Selbstaufopferung eines Alexander Matrossow. Der namenlose schwachsinnige Franzose wurde zu einem schönen Mann, der aussah wie Valentino, aber ich wusste nicht, was ich weiter mit ihm machen sollte, und musste ihn, so bitter es war, einem Querschläger aussetzen. Zu Abend aßen wir in kleinen Gasthäusern. Manchmal tranken die Franzosen Rotwein und sangen, wenn es eine Hochzeit oder sonst irgendeine Feier gab. Viele waren angeheitert und schlicht wie ein Kiefernstamm. Die meisten waren Spione, die uns beschatteten. Ihre Hochzeiten vernichtete ich ebenfalls, mit einer Krümmung meines Fingers. Die dünne Wirtin eines Gasthauses war eine Hexe und wollte mich während des Abendessens vergiften. Ich weigerte mich, Wasser zu trinken, und mit dem Essen spielte ich Roulette – dieses Stück ist vergiftet, das hier nicht. Zum Ende des Essens fielen mir die Augen zu. In unserem Zimmer stand der beklemmende Geruch dürftiger französischer Gemütlichkeit. Über dem Bett hing ein braunes Kruzifix. Ich fürchtete mich vor nichts, aber das Kruzifix machte mir Angst. Statt Kissen gab es Nackenrollen, von denen normale Menschen Nackenschmerzen bekommen – meine Eltern baten die Hexe um Kissen. Die Reisegeschichten sprudelten nur so. In veränderter Fassung kamen sie vor dem Einschlafen zu mir zurück. Mit einem besonderen Gefühl spürte ich erneut, dass die Eltern der Scheidung nah waren. Mich selbst stellte ich mir als unglückliche Waise vor, ich beging aus Boshaftigkeit ungeheuerliche Verbrechen, mich erwartete das Gefängnis. Am Morgen schien die Sonne durch die geschlossenen Läden. Von irgendwoher duftete es köstlich nach Kaffee. Wir mussten weiterfahren und unsere gefährliche Mission erfüllen. Unerwartet wurde mein Bruder geboren. Erstaunt darüber, dass ich Bescheid wusste, nahm mich Kirilla Wassiljewna für alle Fälle unter ihre Fittiche. Sie hatte Recht: Ich durchschaute sowohl die unbefleckte Empfängnis meiner Mutter als auch die unbefleckte Geburt meines Bruders.
*
Kirilla Wassiljewna seifte den orangenen Schwamm ein. Solche synthetischen Schwämme gab es in Moskau nicht. Der Schwamm war groß, porös, löcherig wie ein Käse.
»Dreh dich zu mir um«, sagte Kirilla Wassiljewna, nahm mich bei der Hand und drehte mich zu sich um.
Ich erstarrte immer bei diesem Kommando und bemühte mich, als Letzter beim Waschen dranzukommen, um so den beschämenden Moment hinauszuzögern. Sie drehte mich um, beugte sich vor und begann meine Knie abzureiben. Ich sah von oben, wie unter dem rotgrünen Kittel ihre großen, nicht gebräunten Brüste wackelten.
»Wie viel Narben du hast!«, sagte sie spöttisch. »Du Held!«
Die Tür ging auf, und den großen Baderaum, der voller Dunstschwaden hing, betrat das Kindermädchen im weißen Kittel.
»Kirilla Wassiljewna, kommen Sie nicht zu spät zum Abendbrot!«
»Der hier ist schon mein Letzter.«
»Ich helfe Ihnen.«
»Ach was, er ist ja schon groß, er kann sich allein fertig waschen! Stimmt’s?«
Ich nickte. Sie drückte mir den eingeseiften orangenen Schwamm in die
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