Der gute Stalin
Aufruhr«, sagte Vater, während er mit dem Löffelchen den Pfirsich in kleine Stücke zerteilte. Das Löffelchen rutschte ab und schlug unangenehm gegen das Glas.
»Ein Aufruhr?«, fragte Liebig ironisch und etwas bedrohlich zugleich. Hinter seinem Rücken hatte sich die ganze militärische Macht der Vereinigten Staaten versammelt. Aber Papa erschrak weder über die Ironie noch über die militärische Macht.
»Nun ja«, sagte Vater, »ein Aufruhr.«
»Ich liebe den Regen in Paris«, bemerkte Liebig. »Was für eine erstaunliche Ruhe! Wie gern man nach dem Essen ein Schläfchen machen würde! Schlafen Sie nach dem Mittagessen?«
»An den Wochenenden ja«, verriet Vater ein häusliches Geheimnis.
»Wie lange?«
»Etwa anderthalb Stunden.«
»Nun, und was werden Sie mit dem Aufruhr tun?«, gähnte Liebig, höflich den Mund bedeckend.
»Das ungarische Volk …«
»Ich verstehe. Und Sie?«
»Wir erweisen ihm brüderliche Hilfe.«
»Wladimir«, sagte Liebig, »Sie haben eine Woche. Wenn Sie Ihre Operation vor Ablauf einer Woche beenden, werden wir uns nicht einmischen. Cognac?«
»Heute zahle ich«, sagte Vater. »Zwei Cognac«, bestellte er beim Kellner. »Und die Rechnung bitte.«
»Ich würde mich am liebsten so selten wie möglich mit Ihnen treffen«, sagte Liebig, mit dem Cognac anstoßend, »aber ich fürchte, daraus wird nichts.«
»Es wird Zeit für mich.« Vater trank den Cognac in einem Zug aus. Die Männer erhoben sich und drückten einander die Hand.
»Sie tragen einen guten Tweed-Anzug«, lobte Vater.
»Schottisch«, nickte Liebig. »Aus Edinburgh.«
»Da war ich während des Krieges.«
»Ich weiß«, lächelte Liebig. »Ich bleibe noch ein wenig. Ich möchte eine Pfeife rauchen.«
Vater verließ ruhigen Schrittes das Restaurant, nachdem er an der Tür seinen grauen, zweireihig geknöpften Regenmantel vom Haken genommen hatte. Er stieg in den Peugeot 304 , setzte vom Trottoir zurück und raste über den Boulevard Raspail Richtung Botschaft, während die Scheibenwischer die nassen, nach süßem Tod riechenden Kastanienblätter von der Windschutzscheibe wischten.
»Les feuilles mortes«, murmelte Vater. Er stellte sich vor, wie der große, kräftig gebaute Liebig in diesem Moment gebeugt in der engen Telefonzelle neben der Restauranttoilette stand und die Nummer seiner Botschaft wählte.
»Und?«, fragte Botschafter Winogradow, gequält die buschigen Augenbrauen hebend. Er wartete wie ein kleiner Junge im Vestibül.
»Wir haben eine Woche«, sagte Vater rasch und sanft.
»Schreib ein Telegramm, Funker«, schmunzelte der Botschafter Winogradow. »Nach ganz oben. Du bist der Schreiberling.«
»Ich habe genug von der Kulturarbeit«, bemerkte Vater nebenbei.
»Verstehe.«
Der Botschafter teilte die Leute in Schreiberlinge und Nicht-Schreiberlinge ein. Er selbst gehörte zu den Letzteren.
»Unterschreiben wir gemeinsam, wenn du nichts dagegen hast?«, fügte er ein wenig schmeichlerisch hinzu.
*
»Nein, so was«, reagierte ich auf Mamas Begeisterungausbruch, »um die Erde herum fliegt er! Biep-biep-biep! Kosmos – dass ich nicht lache!«
»Du liest wohl keine Zeitung, die ganze Welt ist begeistert!«
»Wenn er wenigstens zum Mond fliegen würde …!«
»Woher hast du bloß diesen Widerspruchsgeist?«, fragte Mama, unangenehm berührt.
Sie hatte Recht. Ich begriff die Bedeutung des ersten Sputniks nicht. Bei mir entwickelte sich der Widerspruchsgeist. Ich wusste nicht, woher ich ihn hatte. Aber es handelte sich in der Tat um einen Geist. Ich war schüchtern, aber ich besaß einen Widerspruchsgeist. Und er wurde größer. Zunächst war er spontan. Nicht, dass ich einfach nörglerisch gewesen wäre. Aber es gefiel mir, eine eigene Meinung zu haben. Der Widerspruchsgeist, der sich in mir eingenistet hatte, war mit vielem unzufrieden – vom Sputnik bis zu meinen Schuhen – und trieb Mama zur Verzweiflung.
Ich sah ein Modell des Sputniks auf der Weltausstellung in Brüssel und war wieder enttäuscht: So klein war er! Außerdem war da ein Mädchen aus meiner Schule. Ich war in sie verliebt, und sie stellte mit ihrer Person den Sputnik in den Schatten. Wir standen nebeneinander am Eingang zum sowjetischen Pavillon, in der Nähe des Atomiums, das glänzte wie Hundeeier. Sie war ein Jahr älter als ich. Unsere Eltern unterhielten sich, sie zog Grimassen und hampelte herum, und obwohl ich in sie verliebt war, schämte ich mich für sie. Wir sprachen nicht miteinander. Aber in meiner
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