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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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ausgeliehen habe, selbst wenn ich in der letzten Reihe saß, bot sich mir ein erschütternder Anblick. Er hatte die Hose offen. Sein Bauch war nackt. Auf dem Bauch wuchsen gelbe Haare. Eine Unzahl von Sommersprossen und Muttermalen. Ein Glied enormen Ausmaßes. Beinahe ins Nichts starrend, zerrte mein Freund daran herum; es baumelte stramm mit rosa Kopf von einer Seite zur anderen. Der Schwachsinnige bemerkte meinen Blick und forderte mich mit einem Muhen dazu auf, ebenfalls die Sache anzugehen. Doch ich blieb meiner Direktorin Kirilla Wassiljewna treu.
    Heute, wenn ich an diese Geschichte zurückdenke, weiß ich nicht mehr, was daran erfunden ist, erzeugt von wiederholtem Durchs-Gehirn-Drehen, und was die historische Wahrheit. Diese Geschichte steckt seit Mitte der fünfziger Jahre in meinem Kopf – unerschütterlich wie ein Fels. Ich erinnere mich sehr genau an das gelbe Falschgeld, aber ich habe Schwierigkeiten, auf die einfachsten Fragen zu antworten: War Kirilla Wassiljewna eine Erotomanin? Oder handelte es sich nur, wie es ja vorkommt, um eine Laune von ihr? Wieso dann aber die Frage an das Pseudo-Kindermädchen wegen der Männer? Vielleicht stellte sie diese Frage auch viel später? Aber wie konnte sie es wagen? Und nur sie? In der Botschaft gab es damals einen Riesenskandal. Einer der Mitarbeiter hatte statt seiner Frau seine Geliebte mit nach Paris genommen und zuvor zu diesem Zweck das Foto der Letzteren bei der Personalabteilung eingereicht. Jewgenija Alexandrowna, die nicht einmal mit Frauen aus zweiter Ehe etwas zu tun haben wollte, befreundete sich überraschenderweise mit der Geliebten, die in der Öffentlichkeit standhaft den Namen einer anderen (ihr wohl kaum angenehmen) Frau trug. Die außereheliche Konterbande wurde erst entlarvt, als die Ehefrau, beunruhigt, da ihr Mann aus Frankreich nichts von sich hören ließ, im Ministerium anrief. Zu sowjetischen Zeiten war das eine Geschichte, vergleichbar der von Romeo und Julia. Von Kirilla Wassiljewna existieren noch die wenigen Amateurfilmaufnahmen. Sie applaudiert unserer Gruppe: Wir – fünf Jungen – bilden eine Pyramide auf einer Waldwiese, ziemlich ungeschickt. Ich trage ein aus Papier ausgeschnittenes »D« für »Dynamo« auf dem dunkelblauen Pullover, ich bin wieder kahl geschoren. Sie sieht zu, applaudiert, rupft einen Grashalm aus, steckt ihn in den Mundwinkel und kaut darauf herum.
    *
    Picasso sah ich zum ersten Mal an der Côte d’Azur – auf der Terrasse eines Cafés. Papa war mit dem großen Schauspieler Tsch., der bei Eisenstein gespielt hatte, hierher gekommen. Mama war mit dessen Frau befreundet. Als wir in Sotschi im Regierungssanatorium waren, in dem Jahr, als ich schwimmen lernte, sagte die Frau von Tsch. bei einem Spaziergang durch den subtropischen Park zu Mama:
    »Sie können sich nicht vorstellen, wie traurig es ist, mit einem unintelligenten Mann alt zu werden!«
    Das behielt ich für mein ganzes Leben im Gedächtnis. Später begegnete ich vielen Schauspielern: Die nicht dumm waren, waren schlechte Schauspieler.
    Picasso erschien: klein, im gestreiften Matrosenhemd, mit aufgerissenen Augen, mit Stierblick. Er begrüßte Papa und den Schauspieler, und wir gingen irgendwohin. Der Schauspieler sollte etwas von Majakowski lesen. Unterwegs schloss sich uns der Dichter Aragon an. Er war mit Papa befreundet, und wenn er sich mit Elsa Triolet gestritten hatte, kam er in die Botschaft, um sich bei Papa über seine Frau zu beklagen, über die Köchin und die Frauen überhaupt. Ich wusste, dass er Kommunist war. Der Kommunist Aragon betrachtete sich gern im Spiegel. Wenn es einen Spiegel im Raum gab, hörte er nicht auf, sich darin zu betrachten. Dann kam noch ein kräftiger kleiner Mann dazu – Maurice Thorez. Wir gingen in irgendein Haus. Der Schauspieler Tsch. spielte Majakowski und eine Frau, beide Rollen. Man sah, dass sie nicht zusammenbleiben würden, und ich wünschte mir gequält, dass meine Eltern sich nicht scheiden ließen. Nach der Vorstellung tranken die Männer Bier. Picasso nahm mich bei der Hand und sagte:
    »Du hast musikalische Finger.«
    Später sagte Rostropowitsch mir dasselbe, nachdem ich ihm die Tür unserer Moskauer Wohnung aufgerissen und er meine Hand ergriffen hatte: Er brachte mir Briefe von meinen Eltern. Aber ich hatte kein Gehör, und da halfen auch die Finger nichts.
    »Was willst du mal werden?« Picasso blinzelte kräftig, ohne zu lächeln.
    »Nichts«, antwortete ich, dem Röntgenblick des

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