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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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Künstlers ausweichend. Ich sah, dass Papa unruhig wurde und mir zu Hilfe kommen wollte, aber Picasso begann plötzlich zu lachen:
    »Gute Antwort.«
    Alle anderen sahen mich zärtlich an. Ich nahm eine Papierserviette und einen Stift, legte meine Hand auf die Serviette, und während sie sich unterhielten, fuhr ich die Umrisse der gespreizten Finger meiner Hand nach. Ich schenkte die Zeichnung Picasso. Er sagte, dass ich eine schnelle Auffassungsgabe besitze – dabei schnippte er sich mit dem Finger an die Schläfe. Picasso nahm die Zeichnung und bemalte meine Finger mit seinem Finger, den er hin und wieder mit Rotwein befeuchtete. Alle taten, als beachteten sie ihn nicht, aber als alle Finger bemalt waren, gerieten Aragon, Papa, der sowjetische Schauspieler Tsch. und der französische Oberkommunist in helle Begeisterung und sagten alle durcheinander, dass ich diesen Moment mein Leben lang nicht vergessen würde. Picasso sah mich an und sagte, ich hätte so traurige Augen wie Cocteau. Ich wusste nicht, wer Cocteau war, und erst später erzählten sie mir, dass Cocteau eben Cocteau sei. Was aus der Zeichnung mit meinen fünf Fingern geworden ist, weiß ich nicht, aber ich erinnere mich, dass Picasso mit demselben Stift seinen Namen darunter setzte und sie mir überreichte. Ich schließe nicht aus, dass meine fünf Finger irgendwo in einer Schweizer Privatsammlung hängen und eine Million Dollar wert sind. Später fuhr Papa noch einmal, diesmal ohne mich, in den Süden zu Picasso; von dieser Reise gibt es eine ganze Fotoserie, die Papa von Picasso machte, so wie ich ihn gesehen hatte, nur in unterschiedlichen Verkleidungen. Mal trägt er eine Clownsnase, mal sonst noch irgendwas. Papa sagte, Picasso habe sich nach meinen Malerfolgen erkundigt. Für mich ist er ein zeitloser Künstler, weder dem Alter noch einer Mode unterworfen. Er bemalte meine Finger mit dem Wein nicht einfach alle im selben Farbton. Ein Finger war kräftiger rot, ein anderer ganz blass. Alle fanden, dass die gespreizten Weinfinger eines kleinen Jungen ein Meisterwerk seien. Doch hatte diese bemalte Zeichnung auch etwas unbeschreiblich Beunruhigendes: Es schien, als wäre das nicht nur Wein, sondern noch etwas anderes, vielleicht Blut.
    *
    Unsere Botschaft wurde mit Eiern beworfen. Das geschah im Herbst. Die weißen Mauern der Botschaft waren mit roter Farbe bespritzt. Es hieß, dass am frühen Morgen irgendwelche Rowdys mit Autos vorgefahren seien und die Botschaft mit roten Farbeiern beworfen hätten und dass die Polizei nichts unternommen habe, um uns zu schützen.
    »Ich glaube, das ist eine Provokation«, sagte ich.
    »Daran besteht kein Zweifel.« Mama trug vorsichtshalber meinen kleinen Bruder auf dem Arm in der Wohnung herum.
    »Oder ist das der Anfang des Dritten Weltkriegs?«
    Mama drückte meinen Bruder an ihre Brust.
    »Was redest du da!«
    In der Botschaft waren alle schrecklich aufgeregt, es ging zu wie in einem Ameisenhaufen. Alle rannten irgendwohin, auch Papa. Mein Bruder wurde in dem Jahr geboren, als die politischen Erdbeben begannen. Im Sommer in Mante, auf der Toilette, fiel mir ein Stück Zeitung in die Hände, in dem von Stalins Personenkult die Rede war. Stalin hatte für mich keine große Bedeutung. Ich selbst war Stalin. Wohl weniger meine Krimiseifenopern als vielmehr dieses Gefühl, das Zentrum der Welt zu sein, machte mich zu einem verletzlichen, einsamen, leidenden Wesen. Ich spürte plötzlich, dass man mich zur Seite schob: Die Welt wurde sehr viel entspannter, meine Eltern flüsterten immer häufiger, tuschelten und ließen mich nicht an ihren Erwachsenengesprächen teilhaben. Das war ein Komplott gegen mich.
    Als ich die roten Mauern des Botschaftsgebäudes sah, den ersten Abstraktionismus meines Lebens, geriet ich in furchtbare Aufregung. Plötzlich ging mir auf, dass man nicht nur Eisenbahn spielen konnte, nicht nur mit Zinnsoldaten und dass Briefmarken nicht der Gipfel aller Wünsche waren. In dieser Welt konnte man weitaus bedeutendere Dinge tun. Man konnte, wie sich herausstellte, mit roter Farbe gefüllte Eier schmeißen und damit eine Riesenverwirrung auslösen. In den Fluren der Botschaft tauchten Pappkartons auf: Es hieß, die Botschaft würde geschlossen und alle führen nach Moskau zurück. Man verbot uns, in die Schule zu gehen. Das war ein Fest. Alles wurde abgesagt. Ich erfuhr, dass es Leute auf der Welt gab, die Ungarn hießen. Ich entschied, dass Ungarn und Rowdys dasselbe war. Sie hatten rebelliert.

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