Der gute Stalin
Parallelwelt kam sie in allen Krimigeschichten vor. Sie wurde von Feinden verletzt – ich verband sie. Die Reisegeschichten waren übrigens lustig – da triumphierte ich. Die Nachtgeschichten vor dem Einschlafen waren dagegen quälend. Ich verlor auf der ganzen Linie: Meine Eltern ließen sich scheiden, das Mädchen starb, alle starben. In mir lebten Ängste.
Auf der Rückfahrt besichtigten wir in Reims einen lächelnden Engel. In Frankreich gingen meine Eltern in die katholischen Kirchen wie in Museen und begeisterten sich, den Reiseführer in der Hand, für die Gotik. Ihnen gefielen die Glasfenster, die auch mir gefielen: Sainte-Chapelle, Notre-Dame, Chartres, alles, wie es sich gehört. Aber schon diese Museumsimpfung des Katholizismus brachte mich vom rechtgläubigen Weg ab. Bei meiner krankhaften Fantasie hatte ich wahrscheinlich einen Glauben dringend nötig. Mit den Schrecken des Todes musste ich selbst fertig werden, ohne Hilfe von außen. Mir sagte niemand, dass Gott existiert. Aber ich wäre wohl kein Schriftsteller geworden, wenn ich einen Glauben gehabt hätte.
Das Schreiben erwies sich als Glaubensersatz, zumindest anfangs. Ich durchschritt die durch eine formale Religion erzeugte europäische Gottverlassenheit des 20 . Jahrhunderts und bezahlte fremde Rechnungen.
Mama hatte wie ich Angst vor Toten, Angst, sich ihnen zu nähern, sie zu berühren. Für sie war ihr Großvater nur eine kalte tote Hand, die man küssen musste. Die extreme Angst vor Toten, die ich von meiner Mutter geerbt habe, verstärkte sich noch durch Papas Wehleidigkeit, die sich auf mich in vollem Ausmaß übertragen hat. Über diese Wehleidigkeit frotzelte Mama immer wieder. Übrigens ist das nicht das richtige Wort, frotzeln, es stammt aus einem anderen Vokabular. In meiner Familie kam dieses Wort nicht vor. Ich brauche es nur zu benutzen, und schon sehe ich meine Familie nicht mehr – das ist etwas anderes. Es gibt einen ganzen Vorrat an Wörtern, der in unserem Leben nicht zugelassen war. Mama frotzelte nicht – Papas Wehleidigkeit ärgerte sie deutlich, aber sie nahm sich mit aller Kraft zusammen, und auch das war ihr anzumerken. Besonders in den Momenten, in denen Papa wehleidig wurde, zog sich mir das Herz zusammen, denn ich verstand, dass Papa nicht ihr Ideal war. Die lyrischen Beziehungen meiner Eltern sind für mich in Dunkel gehüllt.
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Während in Moskau meine Familie eine die ganze Welt enthaltende silberne Kugel war, brach diese in Paris auseinander – in meiner Kindheit offenbarten sich zwei entgegengesetzte Seiten. Mama tauchte auf wie eine Nixe und wurde sich der liberalen Werte des Lebens bewusst: Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Sie glaubte an den Prozess der Entstalinisierung, der niemals zu einem Prozess wurde. Man hatte Russland die Augen ausgestochen: Es drehte sich im Kreis oder bewegte sich tastend – mal vor, mal zurück. Mama fügte sich weniger einer weiblichen Logik als vielmehr dem Blick des nahen, aber außenstehenden Beobachters, was ein Allgemeinplatz war für das weibliche moralische Urteil in Russland, von Nadeshda Mandelstam bis in unsere Tage.
Ihr weibliches moralisches Urteil stand auf schwankendem Boden. Sie waren Frauen eines Jahrhunderts ohne Glauben. Je schwankender jedoch die Grundlagen ihres Urteils waren, desto strenger wurden die Frauen. Mama nahm den Weg eines Untergrundliberalismus. Der Stalinismus ihres Mannes ärgerte sie. Vater, der Staatsbeamte, sah die Effektivität des Kriegs- und Nachkriegsstalinismus für die Großmacht, und er kam davon nicht los.
Ich saß zwischen zwei Stühlen. In kultureller Hinsicht zog es mich mehr zu Mutter. Die grundsätzliche Lebenseinstellung von Vater war mir indessen näher: Energie, Willenskraft, Erfahrung, Krieg und Spiel. Auf Mutters Seite blieben die Bücher. Die Geburt meines Bruders löste die Spannung. Mein Bruder wurde sofort zum Liebling meiner Mutter, und es war unmöglich, mit ihm zu konkurrieren. Das entfernte Mutter von mir, während Vater keinem der Söhne den Vorzug gab. Er zog uns eindeutig seiner Arbeit. Als Schüler Molotows vergaß Vater dennoch nie das Wichtigste – die Lehre von der Weltrevolution. Später sagte er zu mir, bei Gesprächen mit bourgeoisen Kulturgrößen habe er gespürt, dass die Wahrheit auf seiner Seite sei. Deshalb hielt sich die Wahrheit über Vaters liberales Antauen in engen Grenzen. Zu aggressivem Stalinismus wechselte er jedoch nicht, wie das unser Nachbar und Vaters ehemaliger Vorgesetzter
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