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Der gute Stalin

Der gute Stalin

Titel: Der gute Stalin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Jerofejew
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Im Paris-Match sah ich Panzer, die in eine Stadt einfuhren. Auch sie wurden beworfen: nur nicht mit Eiern, sondern mit Steinen.
    Die ungarische Revolution war für mich ein Wendepunkt. Ich erwachte zum Erwachsenenleben. Endlich wollte ich etwas darüber wissen. Ich begann, meinen Eltern unkindliche Fragen zu stellen. Die Welt weitete sich plötzlich. Meine Eltern wehrten mich ab. Das rief neue Fragen hervor. Mama sagte nachdenklich:
    »Vielleicht müssen wir nach Moskau zurück.«
    In ihren Augen war keine Freude. Auch ich begann meine Sachen zu packen. Mein Spielzeug, meine Schulbücher, meine Briefmarkenordner. Ich sah, wie Arbeiter die Farbe von den Mauern entfernten. Die Botschaft stand verloren da. Etwas war geschehen in der Welt. Jene heile und unteilbare Kinderwelt gehörte der Vergangenheit an. In jener Kinderwelt hatte ein sauberes Botschaftsgebäude existiert, in das nur die eigenen Leute eingelassen wurden: Dort saß ein Diensthabender in der Pförtnerloge – ein wichtiger Mann, der auch, das wusste ich, eine Pistole hatte. Im Garten jener Welt stromerte der Hund Tschernomor umher. Botschafter Winogradow stieg die Außentreppe hinunter und setzte sich mal in den Citroën, mal in den SIS . Ich wusste eins genau, das hatten meine Eltern mir beigebracht, für den Fall, dass ich mich verlief: Ich-wohne-Rue-de-Grenelle-soixante-dix-neuf. Das war meine Parole. Auf einen Schlag war alles zerstört. Die Worte verloren ihren früheren Sinn. Die rote Fahne war vom Tor der Botschaft heruntergerissen. Das wollte nicht in meinen Kopf. Die Fahne herunterreißen? Wer hatte das gewagt? Die konspirative Wohnung war entdeckt. Die Welt hatte Schlagseite. An wem lag das? An irgendwelchen Rowdys, die Eier geworfen hatten. Sie erzeugten neue Rowdys. Die neuen kamen jeden Tag mit Losungen und Fahnen, schwenkten sie und schrien uns durch Lautsprecher irgendetwas zu. Sie wollten uns stürmen. Die Botschaft war nun von Polizei umstellt. Die Situation wurde sehr interessant. In der engen Rue de Grenelle war kein Durchkommen mehr. Am liebsten wäre ich auch ein Rowdy gewesen. Einer, der sich traut, der diesen ganzen Tumult ausgelöst hatte. Dessentwegen Polizeibusse und Militärautos mit langen Antennen, die bis zum ersten Stock hinaufreichten, in die Straße gefahren kamen. Die Polizei trug Helme. Die Botschaftsmitarbeiter stapelten gepackte Kisten vor ihren Wohnungstüren für den Fall der Abreise. Sie waren irgendwie langweilige, schwächliche Leute – jedenfalls keine Rowdys. Durch Budapest fuhren sowjetische Panzer. Ich beschloss, ein schrecklicher Ungar zu werden, der einem Indianer ähnlich war. Ich bekam selbst Lust, mit Eiern zu werfen. Das blieb mir für immer erhalten.
    *
    Es war gegen drei Uhr nachmittags. Mein Papa aß wie gewöhnlich in einem Pariser Restaurant zu Mittag; er trank Wein und sprach mit einem ihm äußerst angenehmen Mann. Das Gespräch wurde auf Französisch geführt, obwohl das für beide Männer eine Fremdsprache war, da mein Vater Englisch letzten Endes nicht gut genug konnte. Sein Gesprächspartner war ein gewisser Liebig, ebenfalls Botschaftsrat wie Papa, gewissermaßen Papas Doppelgänger, nur reicher und transatlantisch. Das Mittagessen ging dem Ende zu.
    »Hören Sie«, konnte Vater sich nicht enthalten zu fragen, »warum wollten Sie nicht mit mir in dieses Restaurant gehen?«
    »Das verrate ich nicht.« Liebig grinste.
    »Ach, bitte!«
    »Ich bin schon einmal hier gewesen. Ich wurde von zwei Kellnern bedient. Einem älteren und einem jungen, offenbar einem Praktikanten. Also, dieser junge Mann war so aufgeregt, dass ihm die Hände zitterten und er mir aus einer Sauciere zerlassene Butter in den Kragen schüttete!«
    Die Männer lachten einträchtig. Die Franzosen blickten sich nach ihnen um. Das Dessert wurde serviert. Papa nahm Pfirsich-Melba, Liebig zog Apfelkuchen vor. Zum Dessert diskutierten sie die thematischen Sahnetörtchen.
    »Na, da haben Sie uns aber vor eine Aufgabe gestellt mit Ihrem Ungarn«, sagte Liebig, müde lächelnd.
    Papa hörte nur »Ihr« Ungarn und wartete schweigend, was weiter kommen würde. Hinter den Fenstern des Restaurants Nieselregen. Tauben saßen unter den Markisen. Die schwarzen Gitter der Pariser Balkone ähnelten Nekrologen. Liebig tauchte in Vaters Leben auf, wenn sich in der Welt Kataklysmen ereigneten. Er lud Vater gewöhnlich in luxuriöse Restaurants ein, Vater ihn in bescheidenere.
    »Was geht da eigentlich vor?«, fragte Liebig.
    »Ein faschistischer

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