Der Hahn ist tot
Anwohner wieder, auch mein Auto und der Hund mochten ihnen im Gedächtnis geblieben sein.
Ich beschloß, mir die Haare wachsen zu lassen. Viele Jahre lang hatte ich einen sehr kurzen Garçonne-Schnitt bevorzugt, der mir im Grunde gut stand. Mit diesem Herrenschnitt, mit den Turnschuhen und den dunklen Hosen hatte man mich in der Dämmerung offensichtlich für einen Mann gehalten. Wahrscheinlich war ich von einer älteren und schwachsichtigen Person beobachtet worden, in der Urlaubszeit waren die jüngeren Leute mit ihren Kindern fast alle verreist. Mit längerem Haar, in einem Kleid, mit zierlichen Schuhen würde man mich erstens nicht für jenen schlanken Turnschuhmann halten, und zweitens würde ich auch Witold als reizvolles weibliches Wesen gegenübertreten. Mir war schon klar, daß meine herbe Strenge nicht seinem Geschmack entsprach. Alles bei ihm zu Hause sah anders aus als bei mir, unordentlicher, phantasievoller, bunter, lebendiger. Aber war es nicht bloß ein Zufall in meiner ganzen Biographie, daß ich ein so disziplinierter Mensch geworden war?
Beate hatte es zum Beispiel immer leichter gehabt. Sie war in einer kinderreichen Familie aufgewachsen, wo es zwar manchmal krachte, aber im großen und ganzen fröhlich zuging. Sie war von klein auf lebensklug gewesen und mir weit überlegen. Ich hatte nur eine bigotte Mutter, die mir einmal im Jahr an meinem Geburtstag erlaubte, drei Freundinnen einzuladen. In meiner Klasse - wir waren übrigens nur Mädchen - gab es noch ein paar von meiner Sorte, nämlich fleißig und brav, eher häßlich, wenig beliebt. Aber die meisten gingen in die Tanzstunde, redeten über Jungs und hatten einen Freund. Auch ohne reiches Elternhaus hatten sie eine Mutter, die sich für ein schönes Kleid begeistern konnte oder es sogar selbst nähte. Die andern: selbstbewußt, lustig, verliebt. So fing es an, so ging es weiter, die Ungerechtigkeit hat bis heute nicht aufgehört.
Zehn Jahre nach dem Abitur besuchte ich ein Klassentreffen. Es wurden fast nur Fotos von Hochzeiten, Babys und Kleinkindern herumgereicht, ein anderes Thema existierte nicht. Ich und noch ein paar andere Übriggebliebene saßen versteinert dabei. Nie wieder habe ich ein Klassentreffen besucht. Ich hasse diese glücklichen Mütter mit ihren
Wunderkindern, hasse diese selbstgefälligen Ehefrauen. Aber ich habe mich nicht gegen sie gewehrt.
Zum ersten Mal im Leben wollte ich nun auch etwas ganz entschieden für mich, mit aller Kraft, aus ganzer Seele: Ich wollte Witold. Dafür wollte ich alles tun, wozu ich fähig war, dafür wollte ich meine ganze Intelligenz aufbieten, dafür hätte ich auch Karriere und Geld aufs Spiel gesetzt.
Nachdem ich sie mehrere Wochen hatte wachsen lassen, gefielen mir meine Haare gar nicht. Als Beate anrief, beschloß ich, sie um Rat zu fragen. Aber sie unterbrach mich.
»Gleich reden wir über Haare. Zuerst muß ich dir wichtige Neuigkeiten erzählen. Erstens: Lessi kriegt gar kein Kind!«
Ich erfuhr, daß Lessi vor vier Wochen einen schwach positiven Apothekentest vorzuweisen hatte, aber nie zum Arzt gegangen war. Trotzdem hatte sie der ganzen Welt von ihrer Schwangerschaft erzählt. Vor einigen Tagen war Beate mit ihr zur Frauenärztin gegangen, die sie nach einer Ultraschallaufnahme eines Besseren belehrte. Heute hatte sie ihre Tage gekriegt.
»Ehrlich gesagt«, meinte Beate, »ich bin doch sehr erleichtert. Ich hätte meinen Job bei der Volkshochschule aufgeben müssen, um Lessis Kind großzuziehen. Denn wie sollte sie studieren ohne Mann, der sich mit ihr beim Babysitten abwechselt?«
Also war Beates Großmutterfreude reines Theater gewesen, dachte ich bitter.
»Und was ist die zweite Neuigkeit?« wollte ich wissen, schon erregt beim Gedanken, es könnte sich um Witold handeln.
»Denk dir, ich habe einen netten Mann kennengelernt«, erzählte Beate und schilderte mir die Vorzüge eines zehn Jahre jüngeren Handelsvertreters.
Obgleich ich ahnte, daß Beate ein offenes Haus und Bett hielt, wurde ich ironisch: »Ist das jetzt also das große Glück?«
fragte ich.
Beate ließ sich nicht ärgern. »Ach du«, meinte sie, »ich kenne keine Frau von fünfzig, der das große Glück über den Weg läuft. Es gibt überhaupt nur kleines oder kurzes Glück. Ich will dir die Schattenseiten auch nicht verschweigen: Er ist verheiratet und hat kleine Kinder. Sie wohnen aber im Münchner Raum, und er fährt nur am Wochenende heim.«
Na, das war aber wirklich nur ein kleines Glück. Ich
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