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Der Hahn ist tot

Der Hahn ist tot

Titel: Der Hahn ist tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Scarlett.
    Kitty stimmte an: »Der Hahn ist tot, der Hahn ist tot«, und Witold setzte mit cremiger Stimme in Französisch ein. Den dritten Einsatz brummte Ernst. Ich schwieg, da ich diesen Kanon nur ungenau kannte und mich außerdem genierte.
    »Los, Scarlett, du bist die einzige hier, die singen kann! Warum schweigt unsere Nachtigall?« fragte Witold.
    »Rainer, ich bin für euren Kinderchor nicht geeignet«, entgegnete Pamela.
    Kitty sang unverdrossen das nächste Lied, und Witold stand ihr bei. Schließlich fragte er wieder: »Womit könnten wir denn deine Gunst und Kooperation erringen, holde Philomele?« und verneigte sich dabei tief vor Pamela.
    »Wenn schon, dann ohne euer Gejaule«, meinte sie abschätzig, »ich singe doch nicht am Lagerfeuer >kein schöner Land in dieser Zeit    Jetzt mischte sich Ernst ein. »Sie will mit Leidenschaft genötigt werden. Meine Damen und Herren! Sie hören jetzt die berühmte Brecht-Interpretin mit Songs»aus der Drei-GroschenOper!«
    Auf einmal tat ich auch den Mund auf: »Ach bitte! Das Lied von der Seeräuberjenny!«
    Scarlett sah mich nachdenklich an, dann nickte sie. Mit einer Handbewegung brachte sie alle zum Schweigen, ergriff einen Teller und ein Küchenhandtuch als Requisiten und schwang sich behende auf den eisernen Kasten, der neben dem Herd stand.
    Alle waren von ihrem Vortrag hingerissen. Scarlett hatte zwar keine liebliche Singstimme, aber sie artikulierte hart und glasklar mit faszinierender Eindringlichkeit, so daß wir für kurze Zeit unsere gewärmte Bauernstube in ein lumpiges Hotel verwandelt sahen und die gerade noch kochende Hausfrau in eine Milva. Der Beifall war frenetisch, aber die Primadonna gab keine Zugabe, sondern piekste mit einem Stäbchen in Kartoffeln und Fleisch, ob der gewünschte Weichheitsgrad erreicht war. Ich geriet in einen Taumel zwiespältiger Gefühle. Durch Witold lernte ich Menschen kennen, wie sie mir im Versicherungsbüro nie über den Weg gelaufen wären! Wenn ich doch auch so eine verrucht-verräucherte Sünderinnenstimme hätte wie die fuchsige Exotin, wenn ich doch irgend etwas so gut könnte, daß alle Beifall klatschen würden!
    Doch, dachte ich, ich kann etwas, es weiß nur keiner; ich habe mehr Macht als die anderen alle zusammen. Aber leider jubeln sie nicht mir zu, sondern der Rothaarigen. Auch wenn sie mein Lied für mich gesungen hatte, konnte ich ihr den Erfolg nicht verzeihen.
    Nun wurde das Essen aufgetragen. Witold legte sich eine Küchenschürze über den Unterarm und servierte artig.
    »Wünschen Gnädigste noch ein Hinkelchen? Geruhen El Hakim noch einen Rotspon zu süffeln?«
    Der Tisch war ohne Tischtuch gedeckt, die Hausfrau hatte ihn nur mit einem suspekten Lappen von Asche und Zwiebelschalen befreit. Mir fiel mein gepflegtes, steifes Diner für Witold ein, und ich schämte mich rückwirkend.
    Unsere beiden Stimmungskanonen waren in Form. Kitty gackerte nach zwei Gläsern Wein wie ein übermütiges Mädchen, und Ernst entwickelte einen bärenhaften Charme.
    Plötzlich sagte Scarlett, der Rotwein mache müde und faul, Sekt müsse her. Sie holte eine Flasche. »Wer will auch?« Keiner meldete sich. Sie nahm zwei Gläser aus dem Schrank und gab mir das eine.
    »Du bist viel zu gedämpft, dir täte ein Gläschen sicher gut!«
    Ich wagte nicht zu widersprechen, obgleich ich bezweifelte, daß mich die Mischung aus Kaffee, Kuchen, Rotwein, Sekt, Huhn und Kartoffeln besonders munter machen würde.
    Scarlett nahm das Glas, trank einen ergiebigen Schluck, ergriff ein Hühnerbein und stellte sich auf ihren Stuhl, als ob sie eine weitere Darbietung zum besten geben wollte.
    Ich wurde kalkweiß und stöhnte. Beate stand hoch auf der Turmbrüstung vor mir, Sektglas in der einen, Hühnerbein in der anderen Hand.
    »Um Gottes willen, was ist mit dir?« fragte man von allen Seiten. Ich konnte mit Mühe herausbringen, mir sei nicht gut, ich wolle lieber heimfahren.
    »Aber dann warte doch ein bißchen, so kannst du dich doch nicht ins Auto setzen«, riet der besorgte Apotheker und wollte mir ein Kreislaufmittel anbieten. Aber ich blieb stur, sagte eilig meinen Dank und verließ den Raum.
    Als ich das Auto aufschloß, kam Witold angerannt. Ich ließ mich auf den Sitz fallen, und er pochte an die Scheibe der rechten Tür, die ich für ihn öffnete.
    »Soll ich dich nicht lieber heimfahren?« fragte er, sehr zart und einfühlsam, »was war denn auf einmal los mit dir?«
    Weil er so lieb war, mußte ich hemmungslos weinen.

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