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Der Hahn ist tot

Der Hahn ist tot

Titel: Der Hahn ist tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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»Sekt und Hühnchen, das war Beates letzte Mahlzeit«, schluchzte ich. Witold legte den Arm um mich.
    »Thyra, ich versteh’ dich nur zu gut. Wenn ich mit den Schröders zusammen bin, dann taucht in bestimmten Situationen immer wieder Hilke auf, denn unzählige Male haben wir zusammen in diesem Häuschen gesessen, getrunken, gefeiert. Dann vergeht mir auch von einer Minute zur anderen
    das Lachen.«
    Ich nickte und lehnte mich ein wenig an seine Schulter. Die Berührung war so wunderbar, daß ich seinen Pullover gründlich mit meinen Tränen einweichen mußte.
    »Komm, komm, ist ja schon gut«, beschwichtigte er mich, »weißt du, wir trauern beide um einen vertrauten Menschen und können es nicht so recht rauslassen. Ich habe inzwischen beschlossen, eine Therapie zu beginnen, die Sache mit Hilke kann ich ohne kompetente Hilfe nicht verkraften. Im Grunde war es auch Quatsch, zur Ablenkung ein Techtelmechtel mit einem jungen Mädchen anzufangen.«
    »Warum kannst du die Sache mit deiner Frau nicht verkraften?« schniefte ich, nur um weiter so innig an seiner Schulter zu lehnen und von seinem Arm gehalten zu werden.
    Aber Witold ließ schon wieder locker.
    »Ich fühle mich schuldig. Wegen mir ist sie tot. Dir mache ich keine Vorwürfe.«
    »Aber eure Beziehung war doch schon gestört...«, wandte ich ein.
    »Das ändert nichts an meiner Schuld, sie wird eher noch größer. Sieh mal: Daß Hilke getrunken hat, dafür bin ich doch irgendwie verantwortlich.«
    »Warum denn?«
    Witold ließ mich nun ganz los und zündete sich rücksichtslos eine Zigarette an.
    »Es ging schon früh los. Hilke stammt aus einer Arbeiterfamilie, sie hat die Hauptschule besucht. Jahrelang hat sie darunter gelitten, daß ich sie ständig belehren und erziehen wollte. Mir ist das selbst gar nicht so aufgefallen. Und - na ja - treu war ich auch nicht.«
    »War sie es denn?« fragte ich.
    »Ja, viele Jahre lang. Aus Trotz hat sie mich schließlich auch betrogen. Vielleicht glaubst du jetzt, ich hätte einen Schuldkomplex, und das stimmt wahrscheinlich auch, aber sicher ist, daß ich ihr viel angetan habe, zum Teil natürlich ohne Absicht.«
    Plötzlich küßte er mich leicht auf die Stirn, sagte tschüs, er werde mich morgen anrufen. Es war nicht mehr die Rede davon, daß er mich heimfahren wollte.
    Wieder einmal lag ich schlaflos im Bett. Bilder verfolgten mich: Beate auf dem Turm, Scarlett auf dem Stuhl, die junge Kitty neben Witold im Wagen.
    Außerdem begann der Glanz um Witold in leiser Trauer zu verblassen, aber schließlich war er ein Mensch mit Fehlern und ich kein Backfisch, der einen Mann schwärmerisch idealisiert. Ich hatte genug Lebenserfahrung, um die liebenswerten Schwächen eines Menschen zu akzeptieren. Eitel war mein Held, das hatte ich schon früh bemerkt, und geltungsbedürftig. War er mit mir allein, konnte er muffig, aber auch fürsorglich sein, erst in Gesellschaft wurde er spritzig. Daneben fiel mir eine gewisse Launenhaftigkeit und latente Hypochondrie auf - nun, damit ließ sich leben.
    Zu seinem Freund Ernst Schröder hatte er ein kumpelhaftes, zuweilen rivalisierendes Verhältnis: Der gemütliche Apotheker war nicht zu unterschätzen; er tat zwar so, als könne er kein Wässerchen trüben, aber er schien sich doch stets durchzusetzen. Seine Frau behandelte ihn nicht gut, spottete häufig über ihn und machte ihn geradezu lächerlich, aber trotzdem schien auch sie ihm letzten Endes zu gehorchen. Auch zu Witold war sie ehrlich bis zur Schamlosigkeit. Auf mich wirkten die Scharmützel dieser beiden Wortgewandten spannungsgeladen; da glomm ein Funken, der leicht zu Feuer werden konnte.
    Scarlett und Vivian: Zwei Paradiesvögel, war das Witolds Geschmack? Kitty und ich, wir waren ganz bestimmt die Antagonisten dazu, die Aschenputtel. Im Märchen bleiben die Pechvögel die Sieger. Wie aber ist es im Leben?
    Gegen Morgen schlief ich erst ein und träumte einen sehr plastischen Traum. Ich lag in meinem Bett, das dringend frisch bezogen werden mußte. Auf dem Kopf trug ich Lockenwickler von großer Scheußlichkeit, wie ich sie in meiner Jugend benutzt hatte, auf dem Gesicht eine Kräutermaske. Gekleidet war ich in das übelste aller Nachthemden, von dem ich mich schon längst getrennt hatte. Der Raum war ungelüftet, Geschirr mit verkrusteten Essensresten stand auf dem Boden, der Spiegel war von Fliegenkot gesprenkelt.
    Ich, Rosemarie Hirte, war im Begriff des Verfaulens, obgleich ich mit Wicklern und Creme dagegen

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