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Der Hahn ist tot

Der Hahn ist tot

Titel: Der Hahn ist tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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ängstliche Erregung, die sich zusehends steigerte. Dieses Gefühl hatte ich früher gehabt, wenn ich Witold vom dunklen Garten aus beobachtete. Ein süchtiges Drängen voll Sehnsucht, Furcht und Kraft.
    Ein Foto in der Brieftasche: Es schien Hilke mit den Söhnen zu sein, wohl vor einigen Jahren aufgenommen. Hilke lachte, ihr schwarzes Haar glänzte, und sie sah sehr anders aus als damals, als ihre grüne Bluse vom auslaufenden Blut dunkel wurde. Der eine Sohn - wohl der ältere - sah ihr auffallend ähnlich. Ich hatte Witolds Kinder noch nie gesehen und betrachtete sie gierig, aber ohne Zuneigung.
    Ein Brief von Vivian, allerdings schon vier Wochen alt. Ihre Handschrift war kaum zu lesen, der Text erging sich in Andeutungen und sprunghaften Assoziationen, mit denen ich nichts anfangen konnte. Nur der Schluß war klar: LOVE, YOURS EVER VIVIAN. Auch die Anrede vermochte ich schließlich zu entziffern: »Geliebter Pharisäer!«
    Solche Briefe konnte ich nie und nimmer schreiben, englische Bücher konnte ich nicht lesen, Brechtlieder konnte ich nicht singen, und Kinder konnte ich schon gar nicht mehr kriegen.
    Noch einmal starrte ich auf den Aschenbecher, das muffige Bett und die schweißigen Socken auf dem Teppichboden. Wie seltsam hatte es die Natur eingerichtet, daß die Menschen fähig waren, über solche ekelhaften Details hinwegzusehen, und sogar versessen daraufwaren, ein solches Nachtlager zu teilen. »Hast du Lust, in dieses Bett zu kriechen, Rosi?« fragte ich mich. Meine Zweifel waren groß. Zum ersten betrafen sie meine Empfindlichkeit gegen Gerüche und meine Abneigung gegen Entblößungen, zum anderen meine Ängste, den Erwartungen eines Mannes nicht gerecht zu werden. Liebte ich Witold wirklich?
    Ich ging wieder in mein Zimmer, legte mich mit Kleidern aufs Bett und nahm meine Zeitschrift. Aber statt zu lesen, starrte ich an die Decke.
    Die Tür wurde aufgerissen. Kitty wehte herein, Frische im Gesicht und Begeisterung in den Augen. »Es war sooo schön«, sagte sie herzlich, »morgen mußt du unbedingt auch mitkommen!«, und sie drückte mir eine geknickte lila Aster und eine späte rosa Rose in die Hand. »T'is the last rose of summer«, sang sie und warf dabei Stück für Stück ihrer Kleidung aufs Bett. »Hab’ doch noch gar nicht gebraust«, sagte sie, schon nackt. Zutraulich blieb sie vor meinem Bett stehen: »Morgens ist es am schönsten, Nebel steigt aus cfen Wiesen, Herbstzeitlosen blühen, im Dorf wird die Milch zur Sammelstelle gefahren. Und diese herrlichen Bauerngärten, sooo große Dahlien...«, zeigte sie mit beiden Händen.
    Ich mußte sie gegen meinen Willen ansehen, denn ich habe große Scheu vor Nacktheit. Kitty, die Unauffällige, das mußte wohl jeder zugeben, sah unbekleidet wunderschön aus. Ihr Körper war kräftig, dabei aber schlank, und strahlte eine natürliche Lebensfreude aus. Singend hopste sie unter die Dusche. Was machte sie so glücklich?
    Ich beschloß, nicht zu weinen. Kitty war schließlich mit fünfunddreißig Jahren immer noch ledig; sollte ich sie beneiden, sie hassen? Das wäre verschwendete Energie.
    Einer Schicksalsgenossin tut man nichts an. Hassen mußte ich eine andere Art von Frauen: die Mütter.
    Beim gemeinsamen Frühstück klärte uns Witold auf, daß Kitty heute Geburtstag hatte. Der Grund für ihre Fröhlichkeit war also nicht eine Liebeserklärung von Witold - ich ärgerte mich, daß ich beim Nachlesen in ihrem Ausweis nur auf das Geburtsjahr geachtet hatte. Witold hatte Kittys Kaffeetasse mit Efeu und roten Hagebutten garniert. Sie sollte bestimmen, wie der Tag heute verlief.
    »Toll!« sagte die bescheidene Kitty strahlend, »dann wünsche ich mir, daß wir ein Stück weiterfahren, ein neues Hotel suchen und ein anderes Stückchen Elsaß anschauen.«
    »Stadt und Kultur oder Land und Natur?« fragte Ernst.
    »Natur!« verlangte Kitty, »ein bißchen Dörfer mit Gärten, und vor allem gutes Essen.«
    »Na, so anders war es bisher ja nicht«, meinte Scarlett, »wir haben nicht gerade gedarbt bis jetzt!«
    Wir fuhren also los, und Kitty, die vorn neben Witold saß, durfte wie ein Fahrlehrer »rechts«, »links« und »stop« sagen. Sie wählte allerkleinste Straßen, begeisterte sich für Bauernhäuser, entdeckte einen Storch und hieß uns nach zwei Stunden in einem kleinen Dorf nach einer Herberge suchen. Hier wolle sie bleiben und nirgendwo anders. Die Herberge an der Hauptstraße hatte nur ein Zimmer frei, verwies uns aber an ein ehemaliges Gutshaus,

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