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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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seiner Frau sogar noch ein drittes abgerungen. Kommunisten bekamen drei, Pfarrer vier oder fünf und Asoziale sechs aufwärts. Wie viele Kinder die Martens mittlerweile hatten, wusste keiner genau. Sie hatte mal eines der Martensbälger gefragt, als die Hilfsschüler noch mit demselben Bus in die Stadt fuhren. Es versprach, zu Hause nachzufragen. Dann, beim nächsten Mal, zählte das Kind seine Geschwister an den Fingern ab. Es brauchte drei Hände. Dreizehn waren sie. Jedenfalls damals. Mit den Babys der beiden ältesten Schwestern sogar fünfzehn. Wie die Orgelpfeifen. Dreizehn. Das waren mehr, als jetzt in ihrer Klasse saßen.
    Sie hatte nur ein Kind, ein einziges. Und das war so weit weg, dass es eigentlich nicht zählte. Sie war wohl eine K-Strategin. Die Gefahr der Ausrottung war groß, wenn die Geburtenrate so niedrig war. Was nützte ein Kind auf der anderen Seite der Erde? Eines, das durch die Zeitverschiebung von ihr getrennt war, neun ganze Stunden, mehr als ein halber Tag? Einer war dem anderen immer voraus. Nie konnte man sich merken, wer wem. Es war unmöglich, auch nur einen Moment zu teilen. Die Martens hatten genug Reserve, wenn eines unter die Räder kam. Aber ein Kind. Das war alles oder nichts.
    In ihrer Kammer in der Sporthalle war alles noch genauso, wie sie es vor den Ferien zurückgelassen hatte. Auf dem Tisch lagen Trillerpfeife und Stoppuhr. Die Vorhänge waren zugezogen. Angenehmes Dämmerlicht.
    Wie müde sie auf einmal war. Sich hinsetzen. Nur kurz. Den Kopf an die Wand lehnen. Im Spiegel über dem Waschbecken ein Stück ihres Kopfes. Die Stirn. Die Falten. Der Haaransatz, die Haare grau, seit mehr als zwanzig Jahren. Ein paar Minuten durchatmen. Den blau-grauen Trainingsanzug auf dem Schoß. Die Beine nackt, käsig, als hätte es keinen Sommer gegeben. Auf den Oberschenkeln fühlten sich die Handflächen kühl an. Die Wärme schob sich in Wellen aufwärts. In den Kopf. Über den Augen ein Flimmern und plötzlich Schweiß. Eine Hitzewallung wie aus dem Lehrbuch. Aber das stand ja in keinem Lehrbuch. Das lernten sie nämlich nicht. Die zweite Verwandlung des Körpers wurde ihnen verschwiegen. Der schleichende Rückbau. Verkümmerung des Gebärtraktes. Einstellung der Periode. Trockene Scheide. Welkes Fleisch. Immer ging es nur ums Blühen. Herbst. Meine Güte. Ja, es war Herbst. Blätterrauschen. Wo sollte jetzt noch ein zweiter Frühling herkommen? Es war lachhaft. Die Ernte einfahren. Netze einholen. Dankfeststimmung. Rentenvorfreude. Lebensabend. Über allen Gipfeln war Ruh. Aber woher kam diese Müdigkeit? Vom Wetter oder vom ersten Schultag?
    Sie war aufgewacht letzte Nacht. Es musste vor vier Uhr gewesen sein. Noch war es stockfinster. Ein Luftzug, der ihr Gesicht streifte. Einmal. Noch einmal. Der Puls sofort auf Hundertachtzig. Ein Flattern. Ein großer Schmetterling? Ein Ligusterschwärmer, aber für den war es eigentlich zu spät. Dann Ruhe. Er musste sich gesetzt haben. Vielleicht war er auch gar nicht mehr da. Sie hatte eine Weile nach dem Schalter der Nachttischlampe tasten müssen. Als es dann endlich hell wurde, schoss das Tier panisch durch den Raum. Flog große Schlaufen. Imaginäre Achten, drei Handbreit unter der Zimmerdecke. Geisterbahnflattern. Eine Fledermaus! Eine junge Zwergfledermaus, die sich verirrt hatte. Das Radarsystem hatte versagt, ihr untrüglicher Orientierungssinn sie verlassen. Ihr Maul war offen, sie schrie. Aber diese Schreie waren nicht zu hören.
    Ihre Intelligenz reichte vielleicht aus, um durch gekippte Fenster zu fliegen und zu erkennen, dass das hier keine Scheunenritze war, keine Baumhöhlung, kein Gemäuerloch eines Trafohäuschens, aber nicht, um durch den Fensterspalt wieder nach draußen zu finden. Es musste aus einer der Wochenstuben gekommen sein, die sich jetzt, am Ende des Sommers, auflösten. Jedes Tier war auf sich allein gestellt. Auf der Suche nach einem neuen Zuhause.
    Sie hatte das Licht gelöscht und war leise in den Keller gegangen. Zur Sicherheit hatte sie sich die Decke über den Kopf gezogen. Gut, dass Wolfgang so einen tiefen Schlaf hatte. Er hätte sich erschreckt bei ihrem Anblick. Ein Gespenst auf nächtlichem Rundgang. Sie hörte sein Schnarchen noch, als sie vor dem Regal mit den Einweckgläsern stand.
    Dann ging alles ganz schnell. Wahrscheinlich spürte das Tier, dass sie seine Rettung war. Ein paar Mal nahm es Reißaus, aber dann, als sie wieder das Glas über seinen kleinen Körper stülpen wollte, ergab es sich vor

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