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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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aus getuschten Wimpern, in den schlingernden Gang. Und weil sie total auf ihn fixiert waren. Jedenfalls solange er einen grünen Overall anhatte. Vollkommene Fehlprägung. Das ging so weit, dass sich seine Hennen nur noch decken ließen, wenn er daneben stand. Dem Zuchthahn gefiel das gar nicht. Jedes Mal plusterte er sich auf und ging fauchend auf ihn los. Drohgebärde des Befruchters. Ein Hahn, der während der Brutzeit sein Revier verteidigt, war genauso gefährlich wie ein Bulle, der seine Kühe bewacht.
    Dass Wolfgang immer dachte, es ginge nicht ohne ihn. Nur, weil er früher jede Kuh eigenhändig besamt hatte. Eine gewisse Dominanz steigerte ja die Empfängnisbereitschaft. Und die Begattung war nun einmal eine Kampfhandlung. Bei den meisten Wirbeltierarten wurde der Geschlechtsakt von entsetzlichen Lauten begleitet. Man brauchte nur an das erbärmliche Geschrei der Katzen zu denken.
    Einmal war Wolfgang nicht schnell genug gewesen, und diezwei knorpeligen Zehen eines Lauffußes hatten ihn an der Brust getroffen. Es hatte sogar in der Zeitung gestanden.
    Wieder hatte er das Gemüsefach im Kühlschrank mit den kokosnussgroßen Straußeneiern vollgestopft. Wer sollte die denn essen? Die größten tierischen Zellen überhaupt. Ein Omelett für eine ganze Schulklasse. Kein Wunder, dass diese Tiere eigentlich dort lebten, wo es noch hundertköpfige Sippschaften gab. Aber für sie beide? Da war schon eines mehr als zu viel. Und so ein Ei hielt sich ja nicht. Gemeinsame Mahlzeiten waren sowieso selten geworden. Sie aß mittags in der Schule bei Tante Anita, er in der kleinen Küchenbaracke, in der er auch das Futter für die Tiere zubereitete. Oft kamen interessierte Besucher. Und alle paar Wochen jemand von der Ostsee-Zeitung, dem er stundenlang was über Straußenzucht erzählte. Dass die Hälse der Hähne nach der Paarungszeit ihre Rötung verloren. Dass ein Strauß klagend trillerte, wenn er sich vernachlässigt fühlte. Dass die Jungstrauße einen Zentimeter pro Tag wuchsen. Wie wichtig es war, schon den Küken kleine runde Steine unters Futter zu mischen, mit deren Hilfe sie das kurze Schnittgras in ihrem robusten Muskelmagen zermalmten. Und dass es ein paar Restaurants in Berlin gab, die gut für Straußenfleisch zahlten. Vor allem die Schenkel waren gefragt. Angeblich das gesündeste Fleisch überhaupt. Mager und cholesterinarm. Er behauptete ja immer, es schmecke wie Rind, aber auf die Idee konnte man nur kommen, weil es auch dunkel war. Visueller Reiz schlägt gustatorischen. Trotzdem stand es in jedem Artikel. Wolfgang Lohmark war der Held der Regionalbeilage. Schließlich gehörte er zu denen, die es noch einmal geschafft hatten. Vom ehemaligen Veterinärtechniker der niedergegangenen Tierproduktion zum Freizeitbauern, der exotische Tiere dickfütterte, von denen man tolle Fotos machen konnte: Gestreifte Straußenküken unter der Rotlichtlampe. Strauße im Trab, Strauße beim Balztanz, Strauße im Schnee. Dazu die Überschriften: Riesenvögel in der vorpommerschen Steppe. Brutstimmung auf Straußenfarm. Dieses Ei reicht für fünfundzwanzig Personen. Aggressiver Hahn attackiert Straußenfarmer.
    Er hatte alle Artikel ausgeschnitten und gerahmt. Sie hingen in seinem Keller. Im Wohnzimmer hatten die nichts zu suchen. Die Strauße gehörten schließlich nicht zur Familie.
    Beim Zähneputzen schaute sie noch einmal nach den Kranichen. Auch die letzten Vögel hatten ihre feuchten Schlafplätze verlassen und brachten nun schüttelnd das Gefieder in Ordnung, streckten die Hälse, prüften den Wind und die Temperatur. Jetzt konnte man sogar die schwarzen Beine erkennen, auf denen sie leicht und würdevoll das Feld abschritten. Kein Vergleich zum Straußengewackel. Hier waren sie Stelzvögel, im Winterquartier Strandvögel. Ein Doppelleben. Maximal drei Tage noch, dann waren sie weg. Die Rechnung war einfach. Jede Verhaltensweise erforderte einen bestimmten Aufwand an Zeit und Energie. Und der Aufwand lohnte sich nur, wenn der zu erwartende Nutzen größer war als die Investition. Immer ging es um Effektivität. Bei allem. Bestimmt war es schön dort, wo sie hinflogen. Das Mittelmeer. Wie spät war es denn? Sie musste los.
    An der Haltestelle stand Marie Schlichter. Schwaches Nicken. Kopf im Nacken. Nase hoch. Hoch zu Roß. Das Gehirn war eine Fallfrucht, ideal verpackt in der Schädelschale. Arzttochter. Zugezogen, um Landluft zu schnuppern. Aber Marie Schlichter schnupperte nicht. Atmete sie überhaupt? Wie

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