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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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um sie vom Säugen abzuhalten, und Bullen, um sie an der Führstange halten zu können. Dass dieses Miteinandergehen so wörtlich genommen wurde. Dabei brauchte Jennifer gar keine Führstange. Dieser kleine Bulle war zahm.
    Beschlagene Scheiben. Kondensiertes Wasser. Eine Affenhitze. Sie wischte sich ein Sichtfenster. Draußen sah es aus, als ob es gar nicht hell werden wollte. Dumpfer Himmel über bleichen Feldern. Falbe Stengel vom abgeernteten Mais im gepflügten Ackerboden. Grün gesprenkelte Erde. Eine ärmlich keimende Zwischenfrucht zum Wohle der Dreifelderwirtschaft. Markstammkohl. Hackfrucht auf Kornfrucht, Rübennach Getreide. Aufgewühlte Erdlöcher auf leerem Weideland. Nur ein schmaler, schwach glimmender Streifen Licht hing über dem blassblauen Wald in der Ferne.
    Vorbeiziehende Bäume, die rissigen Stämme der kahlen Linden. Verglaste Wartehäuschen. Die Scheiben von der Nachtkälte beschlagen, mit Plakatfetzen beklebt, von der zuständigen Dorfjugend zerschmettert. Gelbe Pfähle mit dem aufgespießten H, Haltezeichen an Asphaltbuchten und zugewachsenen Bordsteinen. Und überall schulpflichtige Kinder, vereinzelt oder in kleinen Gruppen. Wie Milchflaschen wurden sie eingesammelt. Milchflaschen am Fahrbahnrand. Schulmilch gab es ja auch nicht mehr. Keinen Milchdienst, der die abgezählten Pfennige wöchentlich kassierte. Vanille, Erdbeer und Normal zwanzig, Schoko fünfundzwanzig Pfennige. Im Winter die Eisklumpen in den Milchkästen. Kalkowski schob sie vor die Heizungskörper. Es dauerte bis zur großen Pause, bis die Milch aufgetaut war. Calcium für die Kinderknochen. Und Fluor fürs Gebiss. Tabletten im Kindergarten. Heute hätte man die Polizei am Hals, wenn man den Kindern Tabletten gäbe. Die Busfahrt dauerte ewig. Eine Dreiviertelstunde. Das lag nicht mal an den vielen Haltestellen, sondern an den abenteuerlichen Umwegen. Das grundsätzliche Abwägen zwischen Aufwand und Nutzen galt hier nicht. In jede Sackgasse wurde eingebogen. Überall angehalten. Alle mussten mit.
    Auch die Horde Fünft- und Sechstklässler war jetzt beinahe vollzählig. Warum sie die auch noch mitnahmen? Dass die keinen eigenen Bus hatten. Wenn sie alle bei einem Unfall sterben würden, könnten sie die Regionalschulen auch gleich noch dichtmachen. Dann wäre wenigstens Ruhe. Dieses Geschrei. Kaum die Milchzähne verloren, schon die große Klappe. Um die Hälse baumelnde Schlüssel, Handytaschen und Zahnspangendosen. Ihre überdimensionierten Ranzen nahmen ganze Sitzplätze ein. Und sie selbst zwängten sich daneben auf die Kante. Mit den Schuhen auf den Sitzen. Aber bei diesem Muster war der Dreck sowieso nicht zu sehen. Dagegen die Älteren wie lebende Tote. Dieses jugendliche Schlurfen durch den Gang. Die Rucksäcke, die jeden Moment von den hängenden Schultern abrutschen würden. Schlaf in den Augen. Ponys, die kurz über der Nasenwurzel aufhörten. Oder gar keine Haare. Kampffrisuren. Und rot gefrorene Ohren unter Baseballkappen. Offene Jungsmünder. Zähnezeigen zwischen Grinsen und Drohen. Zusammengesteckte Köpfe. Großes Hin und Her. Voller Betrieb.
    Dieses unruhige Mädchen vor ihr. Dünne fisselige Haare. Eine violette Schmetterlingsspange, die immer wieder über die Lehne hüpfte. Fellbesetzte Kapuze. Falscher Pelz. Gab es überhaupt violette Schmetterlinge? Bestimmt im Regenwald. Die Artenvielfalt war ja riesig. Eine beinahe unerträgliche Mannigfaltigkeit. Seltsames Getier. Nach jeder Expedition immer neue Arten, Unterarten und Varietäten. Durch Isolation fertil gewordene Bastarde. Ordnung war nicht da. Ordnung musste geschaffen werden. Man kam gar nicht hinterher. Nächtliche Fernsehsendungen. Farbflecke im Dschungel. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch keinen Eisvogel gesehen. Ein Ding der Unmöglichkeit. In all den Jahren. Aber einen Schwarzstorch und zweimal einen Pirol. Den gelben Wundervogel. Da war sie noch klein. Zusammen mit ihrem Vater. Jetzt kam ein Mädchen angewackelt. Groß, unförmig. Und ungekämmt. Pausbacken wie ein Hinterteil. Fettbrüstchen, die durch den Mantelstoff drückten. Höchstens zwölf. Aber alles schon da. Alles schon vorbei. Sie stoppte bei dem Mädchen mit der Spange. Baute sich auf.
    »Du sollst nach vorne kommen! Zu Juliane!« Das war ein Befehl, keine Information. Juliane schien ihre Handlangerinnen gut im Griff zu haben. Der Schmetterling machte sich sofort auf den Weg.
    Die Hackordnung war prächtig ausgebildet. Könige und Fußvolk. Arbeitsbienen, die den Nektar

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