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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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umrühren. In keiner anderen Altersgruppe war die Hierarchie so streng. Ein Aufsteigen zwischen den Rängen so gut wie unmöglich. Einmal Außenseiter, immer Opfer. Und Einpeitscher fanden sich immer. Haareziehen. Ausgedrückte Hagebutten in den Kragen. Auflauern auf dem Nachhauseweg. Geklaute Turnbeutel. Kloppe auf dem Klo. Hose runter. Futter für das Wir-Gefühl. Auch Ellen wurde gerade von irgendjemandem in den Schwitzkasten genommen. Wirklich gefährlich sah es nicht aus. Jedenfalls wehrte sie sich noch. Sollte sie sich selbst helfen. Das würde sich schon regulieren.
    Wieder hielt der Bus. Der neueste Zugang war Saskia. Wie immer ging sie ganz bis nach hinten durch. Beugte sich runter zu Jennifer. Drei Wangenküsse, aber sonst kein Wort. Die Haare wie ein Vorhang. Armreifengeklimper. Eine gestreckte Hand Richtung Kevin. Dann warf sie sich in die Sitzbank, installierte die riesigen Kopfhörer und drehte die Lautstärke ein paar Dezibel weiter auf. Lieber taub als einsam. Kurz hatte sie sich mal um Paul bemüht, um Jennifer einzuholen. Aber den hatte das Wechselspiel aus Zuwendung und Ablehnung komplett überfordert. Wettbewerb verloren. Anschluss verpasst.
    In der letzten Bank Schweigen. Jennifer und Kevin hatten Langeweile.
    »Liebst du mich?« Jennifers Kinderstimme.
    »Klar.« Wie erwachsen er klang.
    »Sag meine Handynummer.«
    »Was?«
    »Meine Handynummer. Die wirst du ja wohl auswendig können.« Weibliche Logik.
    »Wieso? Ist doch eingespeichert.«
    »Los, mach schon.«
    »Null … eins … ähm … sieben …«
    »Weiter.«
    Er kam nicht weiter. Sie half ihm auf die Sprünge. Dann ließ sie sich wohl küssen. Jedenfalls war nichts mehr zu hören. Es war widerlich. Aber was sollten sie auch reden? Zu sagen gab es nichts. Man redete sowieso zu viel. Dass Wolfgang und sie nicht mehr miteinander sprachen, fiel gar nicht auf, wenn man sich tagelang nicht sah. Was sollte all das Kuscheln? Man blieb ohnehin nur deshalb zusammen, weil die Aufzucht der Jungen unendlich aufwändig war. Auf eine Stärkung der Paarbildung waren sie nicht mehr angewiesen. Das Kind war aus dem Haus. Der Fall erledigt. Was hätten sie auch machen sollen? Eine Glückwunschpostkarte schreiben? Sie hatten sich mal gut verstanden. Jetzt machte jeder seins und gut. Er hatte Arbeit. Sie hatten sich arrangiert. Waren perfekt eingespielt. Irgendwann hatte man alles durch. Sollte sie tatsächlich früher in Rente gehen, würde er ihr nicht auf der Tasche liegen. Einmal hatte er zu ihr gesagt, er möge Frauen aus der zweiten Reihe. Noch vor der Hochzeit. Die große Liebe war es nie gewesen. Das hatten sie nicht nötig gehabt. Dass er mit Tieren gut konnte, hatte ihr immer an ihm gefallen. Was war das schon, Liebe? Ein scheinbar wasserdichtes Alibi für kranke Symbiosen. Joachim und Astrid zum Beispiel. Keine Kinder. Es hatte nicht geklappt. Und als es für alles zu spät war, beschuldigte einer den anderen, dass es an ihm lag. Gemeinsame Spaziergänge in Zweiergruppen. Vorne die Männer, hinten die Frauen. Joachims kahler Kopf neben Wolfgangs krauser Mähne. Astrids nervenschwache Stimme. Schiedsrichtereien. Findest du nicht auch? Nein, fand sie nicht. Was ging sie fremdes Elend an? Sie waren jämmerlich, nicht bemitleidenswert. Sie schlugen sich halb tot, stellten einander nach, und einer drohte dem anderen mit Selbstmord. Fasching im Kulturhaus. Eine Kapelle aus Sachsen. Vier langhaarige Typen. Partnertausch beim Tanzen. Viel Goldbrand. Frühmorgens Dramen in der Milchbar am Markt. Es gab keinen Zweifel, dass sie zusammengehörten. Ein äußerst wirksames Gemisch aus Symbiose und Parasitismus. Siamesische Zwillinge. Wenn einer krepierte, würde der andere auch draufgehen. Irgendwann waren sie weggezogen. Nach Berlin. Wegen der Kultur. Es war auch nicht mehr mitanzusehen.
    Jetzt bog der Bus in die Sackgasse ein, an deren Ende Erika stand, wenn sie nicht krank war. Dann hätten sie diesen vier Kilometer langen Umweg durch den Wald völlig umsonst gemacht. Aber Erika war gesund. Jedenfalls stieg sie ein, grüßte mit ihrem Hundeauge und nahm auf Lohmarks Höhe Platz. Das Fenster spiegelte. Erika in schwacher Beleuchtung. Vor dem Tannenwald, seitenverkehrt. Die enge, blaue Windjacke hatte sie schon vor ein paar Wochen gegen diesen übergroßen Parka eingetauscht. Armeegrün. Die Fahne auf dem Ärmel. Ohne Hammer, Zirkel, Sichel und Ährenkranz. Noch immerwar es, als ob was fehlen würde. Für die Demonstrationen damals hat sie einfach das Emblem

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