Der Hals der Giraffe
seiner verbeulten Jeans. Er war vergnügt. Sein Tag war gerettet. Er hatte einen guten Fang gemacht, den er in seinen Bau schleppen würde, zu all den anderen Dingen, die man irgendwann noch einmal gebrauchen konnte. In sein Reservelager. Ein Reserveleben. Hans im Glück. Arme Sau.
»Einen schönen Tag noch, Hans.«
Er hatte seine Ration bekommen.
»Ich mag das, wenn du meinen Namen sagst. Das tut gut. Passiert nicht oft.« Er kniff die Augen zusammen. »Weißt du, es redet ja keiner mit einem. Es wird ja einfach nicht mehr miteinander geredet.«
Er meinte natürlich sich selbst. Er konnte es nicht lassen. Nahm die ganze Hand, wenn man ihm den kleinen Finger reichte. Nun aber wirklich.
Sie ließ ihn stehen. Das war er gewöhnt.
Wieder diese Müdigkeit. Sie würde sich einen Kaffee machen. Wolfgang war noch bei seinen Straußen. Bis er nach Haus kam, blieb noch Zeit. Elisabeth strich durch den Garten. In der Ferne die rot-weißen Flügel der Windräder und der blinkende Funkturm.
Der Betreff der Mail hatte zwei Wörter. Das Herz, den pulsierenden Muskel, spürte sie plötzlich bis in den Hals: Just married. Diese Worte verstand selbst Inge Lohmark, obwohl sie kein Englisch konnte. Just also. Sie klickte auf die unterstrichene Zeile. Da war das Foto. Ein grinsendes Paar, beide in Weiß. Zwei Fremde. Steven stand da. Steven and Claudia. Darunter verschlungene Ringe und zwei schnäbelnde Tauben. Glückwunschkartenvögel. Friedensverkünder unterm Regenbogen. Dabei waren die doch bekannt dafür, sich gerne zu hacken. Nur eine abartige Inzuchtzüchtung hatte ihnen diese Unschuldsmiene verpasst.
Sie lehnte sich zurück. Auf dem Tisch lag der Stapel mit Unterrichtsmaterialien, ganz oben der Sitzplan der Klasse Neun. Wie unordentlich er aussah. Diese vielen, verschiedenen Handschriften. Schwer zu lesen. Manche waren kaum zu entziffern. Sie würde ihn noch einmal abschreiben. Und da unten am Rand. Das war doch der Platz für das Lehrerpult. Da müsste sie ihren Namen hineinschreiben. Die Lider waren jetzt schwer, die Augen fielen ihr zu, aber da waren überall Fussel, die auf der Bildfläche hin- und herschwammen, nicht aufhörten, zuckend abzudriften und wieder aufzutauchen. Der Mund trocken, der Hals ganz eng. Inge Lohmark hatte das Gefühl, einen Bonbon zu verschlucken.
Vererbungsvorgänge
Die Kraniche waren immer noch da. Auf dem Feld hinterm Haus, wo der Acker zu einer weiten Mulde abfiel. Seit Wochen versammelten sie sich dort, ästen auf den Stoppelfeldern und schliefen auf ihren gestelzten Beinen im knöcheltiefen Wasser der nahen Sölle. In der Morgendämmerung eine Ansammlung grauer Punkte, die sich hin und her bewegten, und nur allmählich gewannen die Tiere vor der dunklen Landschaft Kontur. Eine staksende Schar, die täglich größer geworden war. Lauter Vögel, die sich nicht kannten, ein anonymer Verband, den ein gemeinsames Ziel zusammenhielt: die Küsten Andalusiens und Nordafrikas. Die Nachhut des westeuropäischen Zugs ans Mittelmeer. Die Luft war bitter und feucht. Auf dem Fensterbrett lag schon Raureif. Noch nie waren sie so lange hiergeblieben. Schon Mitte November. Sie wirkten unruhig, schienen auf irgendetwas zu warten. War es die Zugunruhe? Würden sie endlich aufbrechen? Ihre ausgefransten Flügel ausbreiten und sich mit trompetenartigem Geschrei in die Luft erheben? Mit durchgedrückten Beinen und gestreckten Hälsen am Himmel eine ungleichmäßige Phalanx bilden. Ein krummer Pfeil nach Süden. Es blieb ein Rätsel, wie sie sich orientierten. An der Sonne? Den Sternen? An magnetischen Feldern? Hatten sie einen inneren Kompass?
Inge Lohmarks Atem stieg wie Dampf auf. Es war kalt. Bestimmt unter null. Worauf warteten sie denn? Wie gut es seinmusste, einem Trieb zu folgen. Ohne Sinn und Verstand. Sie schloss das Fenster.
Wie immer war Wolfgang schon bei seinen Straußen und hatte einen halb gedeckten Frühstückstisch hinterlassen. Ein paar Krümel verrieten den Platz seiner Nahrungsaufnahme. Auf ihrem Stuhl lag ein Knäuel. Ein zusammengeknüllter grüner Overall, ein Unterhemd, blaue Sportsocken. Seine Art, um frische Wäsche zu bitten. Es musste unbedingt wieder ein grüner Overall sein, weil die Hirne dieser Vögel zu klein waren, um sich Gesichter zu merken. In einer anderen Farbe würden sie ihn nicht wiedererkennen. Aber das durfte man nicht sagen. Er würde das niemals zugeben. Für Wolfgang waren es die klügsten Tiere überhaupt. Er war geradezu verliebt in sie. In ihre von Natur
Weitere Kostenlose Bücher