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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Schalansky
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genervt sie tat. Eine Zumutung das alles. Jugend als Inkubationszeit des Lebens. Warten auf den Schulbus. Warten auf den Führerschein. Darauf, dass sie wieder wegziehen konnte. Die eitle Überzeugung, dass das Beste noch kommen würde. Wenn sie sich da mal nicht irrte. Aber wenigstens hielt sie den Mund.
    Der Bus war pünktlich und wie immer fast leer. Alle hatten ihre angestammten Plätze. Marie Schlichter nach vorn. Inge Lohmark in die vorletzte Reihe. Dort war der Dieselmotor am lautesten und übertönte den Lärm, der spätestens fünf Haltestellen weiter ohrenbetäubend sein würde. Sie hatte die ganze Sitzordnung durcheinandergebracht. Paul und seine Freunde von der letzten Bank vertrieben. Jetzt fläzte sich die Meute aus Halbstarken und Spätzündern im Mittelfeld. Natürlich hatte es neugierige Blicke gegeben. Hatten sich alle gewundert, warum sie jetzt jeden Tag mit ihnen im Bus übers Land kutschierte. Aber es sprach vieles dafür, nicht selber zu fahren. Allein die Unfallgefahr. Die vielen Idioten, denen ihr Leben nichts wert war. Ganz zu schweigen vom Wild, all den Rehen und Wildschweinen, die in der Morgendämmerung mit glasigen Augen in das Scheinwerferlicht herannahender Fahrzeuge starrten und sich nicht vom Fleck rührten. Und dann musste man ja draufhalten, sonst zahlte die Versicherung nicht. Die ganze Gegend war nichts als ein einziges, riesiges Wildwechselgebiet. Überall Hochstände. Bretterbuden auf hohen Stelzen, zu denen steile Leitern führten. Baumhäuser für Erwachsene. Schließlich ist sie früher auch immer mit dem Bus gefahren. Zur Schule und in die Bezirksstadt. Undim Herbst oft mit Wolfgang hoch in den Norden, zu den Kranichen. Erst mit dem Bus, dann mit dem Zug. Dann noch mal mit dem Bus. Endlose Wanderungen, herbstbunte Flure. Mit Thermoskanne und Stullen. Bis sie endlich den Sammelplatz der Kolonie entdeckten, auf einen Hochstand kletterten und einfach nur nebeneinander saßen und die Kraniche beobachteten. Stundenlang. Das hatte ihr an ihm gefallen. Dass sie nicht reden mussten. Und er schien auch froh darüber gewesen zu sein. Seine erste Frau hatte ja immer nur geredet, den lieben langen Tag den Rand nicht halten können. Und Klaus, mit dem sie vorher zusammengewesen war, hatte immer diskutieren wollen. Politisches. Über die Regierung und die Zukunft. Er redete sich immer mehr in Rage, und sie wurde immer müder. Und irgendwann hatte sie Kopfschmerzen und Klaus so einen roten Kopf wie die Männer in den Perlon-anzügen mit Nelke im Knopfloch, wenn sie auf irgendeiner Bühne unter den Zukunftsbannern über eine Welt sprachen, die sie sich ausgedacht hatten: Mit tüchtigen Werktätigen, erfüllten Plänen und verbesserten Produktionsmitteln. Wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben. Man wußte nie, ob das eine Drohung oder ein Versprechen sein sollte. Vielleicht beides. Irgendwann hatte Klaus ernst gemacht. Aber da waren sie längst nicht mehr zusammen. Befragt wurde sie trotzdem. Dreieinhalb Stunden. Sie kannte das ja. Akkurat rasierte Herren. Elegante Anzüge. Nicht so ein Perlonzeug. Die saßen erst ganz brav da. Kaffee und Kuchen. Und dann wollten sie einfach nicht mehr gehen. Sie brauchte sich nichts vorzuwerfen. Andere hatten auch unterschrieben. Und geschadet hatten die paar Berichte niemandem. Dass das jetzt so breitgetreten wurde. Selbst Kattner sie darauf ansprechen musste.Dabei war der selbst nicht ganz sauber. Holte seit Wochen jeden Kollegen einzeln in sein Büro, und danach durfte keiner was erzählen. Hans meinte mal, dass sich früher wenigstens die Stasi für ihn interessiert hätte. Wenn er besonders einsam war, las er seine Akte. Tröstete sich damit, wie wichtig er einmal gewesen war. Zumindest für ein paar Zuträger und ihren Führungso∞zier. Was stand da schon drin? Kaum Möbel, kein Damenbesuch. Dass er asozial war. Im Wohnungsgrundstück wurde H. G. von den Mietern als arbeitsscheue Person eingeschätzt. Der Ermittelte besitzt kein Kraftfahrzeug, aber ein Fahrrad, das er beinahe täglich benutzt. Zudem ist er sehr gesprächig. Heute konnte man ja machen, was man wollte. Nur interessierte es eben auch niemanden.
    Jennifer stieg ein und zog Kevin hinter sich her. Bis zur letzten Bank. Die war nach Pauls Rückzug zum Testgebiet für pubertäre Anpaarungen geworden. Jennifer hatte die Initiative ergriffen, kurz nachdem Kevin mit einem Bullenring in der Nase zur Schule gekommen war. Glänzendes Metall mitten im Gesicht. Sowas legte man Kälbern an,

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